SITZUNGSPERIODE 2003

(1. Teil)

BERICHT

5. SITZUNG

Mittwoch, 29. Januar 2003, 15.00 Uhr

REDEBEITRÄGE IN DEUTSCH


Rosmarie ZAPFL-HELBLING, Schweiz, EPP/PPE

Herr Präsident, Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren.

Im Namen der EPP möchte ich einige Bemerkungen zu dem sehr guten Bericht von Herrn Surján machen, die von uns von großer Bedeutung sind.

Im Bericht wird erwähnt, dass trotz europäischer Sozialcharta und den darin geforderten Rechten viele Behinderte diese Rechte nicht wahrnehmen können. Sie werden nach wie vor zu einem großen Teil von fundamentalen Rechten der Bildung, des sozialen Lebens oder auch den Rechten auf angemessene Unterbringung ausgeschlossen. Das Jahr 2003 wurde zum Jahr der Behinderten deklariert. Das gibt die Chance, sich mit dem Thema der Gleichstellung der Behinderten auseinander zu setzen. Es reicht jedoch nicht, wenn sich ein paar Behinderte oder ein paar Politikerinnen und Politiker Gedanken machen, wie die Situation verbessert werden kann. Es braucht einen Gesinnungswandel im Umgang mit Behinderten.

Wir erleben heute, dass mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der viele unserer Länder stecken, die Bereitschaft zur Beschäftigung von Behinderten stark zurückgegangen ist. Es braucht Anreizsysteme zur beruflichen Integration von Behinderten. Ideen und Vorschläge gibt es zuhauf.

Die Wirtschaft will jedoch nichts davon wissen und ist auch froh, dass die Politikerinnen und Politiker sich damit nicht die Finger verbrennen. Verschiedene Länder haben gute Modelle eingeführt, sei es die finanzielle Entlastung der Arbeitgeber oder Quotenmodelle, die in zehn Staaten der EU schon angewendet werden, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Gerade Frankreich ist hier ein großes Vorbild und hat bereits sehr viel in dieser Richtung getan.

Punkt 4 des Berichtes erwähnt, dass Behinderte wie alle Menschen Liebe und Zuneigung von ihrer Familie erhalten sollten. Dazu braucht es aber auch Unterstützung für diese Familien. Das ist richtig und gut. In dem Bericht wird jedoch nicht erwähnt, dass diese Unterstützung auch für das behinderte Leben gelten muss, das noch nicht geboren ist. Unsere Gesellschaft muss sehr wachsam sein, dass sie mit den technischen Möglichkeiten, die wir heute immer mehr benutzen können, nicht dazu übergeht, wertes von unwertem Leben zu differenzieren. Dem einzelnen Menschen muss die Entscheidung überlassen werden, wie weit er für sich die Möglichkeit sieht, einen behinderten Menschen in der Familie mitzutragen, für ihn da zu sein, ihm aber auch Liebe und Geborgenheit schenken zu können. Es darf nicht sein, dass Frauen durch Politik und Versicherungen nach vorgeburtlichen Untersuchungen, welche eventuelle Behinderungen aufzeigen, zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen werden. Die Drohung, dass danach bei einer Geburt die Versicherungsleistungen gekürzt oder gar nicht ausbezahlt würden, ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte, aber auch gegen die Menschenwürde.

Im Namen der EPP bitte ich Sie, den Bericht mit den Änderungsanträgen, die die Kommission genehmigt hat, anzunehmen.

Ich danke Ihnen.

Karl-Hermann HAACK, Deutschland, SOC

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Die sozialistische Fraktion begrüßt diesen Bericht unseres Kollegen László Surján aus Ungarn und unterstützt die dort angeregten Maßnahmen. Dieser Bericht erscheint im Europäischen Jahr 2003, also dem Jahr für Menschen mit Behinderungen, und orientiert sich daran. Ich will uns alle gemeinsam daran erinnern, dass am letzten Wochenende in Athen das europäische Jahr unter großer Beteiligung eröffnet worden ist und sich die Europäische Union und nun auch die Mitglieder des Europarates verpflichtet haben, sich zukünftig in einer besonderen Weise des Themas Eingliederung von Menschen mit Behinderungen anzunehmen.

So wie der Bericht nach vorne weist, muss man vielleicht auch etwas in die Geschichte zurückschauen. Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erlaube mir zwei Bemerkungen.

Als die neuen Staaten aus der ehemaligen Sowjetunion dem Europarat beitraten, haben wir gemeinsam in diesem Ausschuss die mittelosteuropäischen Staaten besucht. Insbesondere auf Anregung unseres britischen Kollegen Mr. Hancock, waren wir in Rumänien und haben dort sehr intensive Gespräche geführt. Über diese Gespräche zur Lage der Menschen mit Behinderungen in Rumänien und den mittelosteuropäischen Staaten ist dann in den Medien viel berichtet worden, was zu einer großen Hilfswelle geführt hat. Dies war also der Anlass dafür, dass der Ausschuss des Europarates sich mit diesem Thema beschäftigt hat, und zwar mit der Zielsetzung, eine Grundidee, eine Charta zu verabschieden.

Der zweite Grund, warum wir uns heute mit diesem Thema befassen, sind die Behindertenorganisationen selbst, also die betroffenen Menschen – in Deutschland nennen wir sie Experten in eigener Sache – , die sich gewissermaßen als Bürgerrechtsbewegung gesammelt und ihre Forderungen an die etablierte Politik angemeldet haben. Ihr Vorbild war die Bürgerrechtsbewegung der Menschen mit Behinderungen in den USA, die in der Clinton-Ära zu einem Antidiskriminierungsgesetz geführt hat, das für die betroffenen Organisationen als besonders vorbildlich gilt. Die sozialistische Fraktion freut sich, dass dieser emanzipatorische Bürgerrechtsansatz in der Resolution, dem Bericht, den wir heute verabschiedet haben, enthalten ist.

Der Bericht stützt sich auf zwei Grundlagen, die für die Arbeit des Europarates konstitutiv sind: zum einen auf die Konvention der Menschenrechte und zum anderen auf die revidierte Sozialcharta. Diese beiden Grundlagen leiten den Perspektiv- und Paradigmenwechsel in der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen ein. Hier soll das konkrete Ziel verfolgt werden, den Menschen mit Behinderungen nicht mehr als ein Objekt von Fürsorge zu sehen, sondern als einen Menschen, der an der Gesellschaft, an der Welt der Arbeit und des sozialen Zusammenlebens sowie am kulturellen Erbe und der Kultur unserer Gesellschaft teilhat, die sich in der Versammlung des Europarates widerspiegelt.

Wir hätten einen weiteren Wunsch. Er betrifft zwei Punkte, um sie man sich vielleicht später noch wird kümmern müssen: erstens die Berufung eines Kommissars für Menschen mit Behinderungen; zweitens die Erstellung von Länderberichten, das heißt konkreten Berichten zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage des heute zu verabschiedenden Berichtes. Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, wir werden diese beiden Gedanken in den nächsten Jahren nochmals aufgreifen müssen.

Im Namen der sozialistischen Fraktion möchte ich dem Berichterstatter einen herzlichen Dank aussprechen.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Zunächst möchte ich für den Ausschuss für Recht und Menschenrechte ausdrücklich die Grundlinie des Berichts und des Resolutionsentwurfes von Lord Judd und des politischen Ausschusses unterstützen.

Als Berichterstatter des Ausschusses für Recht und Menschenrechte ist es leider meine traurige Pflicht geworden feststellen zu müssen, dass die Menschenrechtssituation in Tschetschenien weiterhin äußerst unbefriedigend ist. 2001, 2002 und auch bereits im Januar 2003 ist es in Tschetschenien immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Konfliktes gekommen. Die tschetschenischen Kämpfer richten ihre Gewaltakte zunehmend auch gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere solche Personen, die in der Zivilverwaltung Tschetscheniens arbeiten. Aber auch einige russische Kräfte überziehen die Zivilbevölkerung weiterhin mit Terror. Fast täglich verschwinden Leute, die verhaftet worden sind. Später werden dann die verstümmelten Körper in Massengräbern oder einfach am Straßenrand wieder gefunden. Es gibt Fälle von ungesetzlichen Tötungen, für welche russische Nichtregierungsorganisationen das Militär verantwortlich machen. In allen schweren Fällen von Verbrechen und vermeintlichen Massakern, die jetzt ein, zwei oder bereits drei Jahre zurückliegen, konnten die Täter nach den offiziellen Angaben der Generalstaatsanwaltschaft bisher nicht ermittelt werden. Leider bleibt uns nur noch der Schluss, dass die Untersuchungsbehörden entweder unfähig oder unwillig sind, die Fälle aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen und zu bestrafen. Es herrscht also weiterhin leider ein Klima der Straflosigkeit in der tschetschenischen Republik.

Wer einen politischen Prozess in Tschetschenien in Gang setzen will, der auch von der Bevölkerung akzeptiert werden kann, muss zuvorderst dafür sorgen, dass von Schikanierungen, Misshandlungen und Verschwindenlassen von Personen sofort und nachhaltig Abstand genommen wird. Dies und die Bestrafung der Täter bereits vergangener Verbrechen sind Grund- und Vorbedingungen für eine beginnende Normalisierung in Tschetschenien. Wir werden in unseren Änderungsanträgen vorschlagen, dass diese Gesichtspunkte noch stärker in die Resolution eingearbeitet werden. Wir werden auch um eine Order bitten, damit sich der Rechtsausschuss noch einmal intensiv mit den Einzelfällen befassen kann, über die es zum Teil recht gute Dokumentationen von Nichtregierungsorganisationen gibt, und damit wir uns klar zu den schwierigen, extrem schlechten Menschenrechtsbedingungen äußern können, die leider immer noch in Tschetschenien herrschen.

Vielen Dank.

Die Präsidentin

Danke, Herr Bindig.

Ruth-Gaby VERMOT-MANGOLD, Schweiz, SOC

Die sozialdemokratische Fraktion unterstützt den Bericht von Lord Judd und teilt seine Bedenken, dass ein Referendum zum jetzigen Zeitpunkt und in einem derart zerstörten und orientierungslosen Land wie Tschetschenien zu zusätzlichen und heiklen politischen Problemen führen wird. Unter einem Referendum, das zur tristen politischen Farce zu verkommen droht, würde vor allem die Bevölkerung leiden, die nach all den Jahren des Krieges, des fragilen Friedens und erneuten Krieges wohl kaum in ein unausgereiftes Politikprojekt einsteigen will. Die Bedingungen für ein Referendum können bis zum 23. März nicht erfüllt werden. Ich bitte Sie, einen klaren Resolutionsentwurf zu verabschieden, der nicht verwässert wird. Das Referendum sollte jedoch noch in diesem Jahr stattfinden können, kann es doch zu einem wichtigen Element zur Unterstützung von ehrlichen Friedensverhandlungen werden.

Wir sind mit den Bedingungen von Lord Judd einverstanden, aber es gibt noch weitere offene  Fragen. So haben viele Wahlberechtigte keine oder nur rudimentäre Ausweise, die von den russischen Militärs nicht anerkannt werden. Tschetschenen, die um Ausweise ersuchen, werden mit Ausflüchten hingehalten, bekommen ihre Ausweise nicht und müssen immer wieder für neue Verfahren oder die täglichen Kontrollen teueres Geld bezahlen. Wer sich nicht ausweisen kann, kann auch nicht stimmen. Es sieht kaum so aus, als würden die Machthaber ihre Hinhaltepraxis ändern.

Wer am Referendum teilnehmen will, kann dies scheinbar nur in Tschetschenien selbst tun. Was ist aber mit den Tschetschenen, die außerhalb leben und die Reise nicht antreten wollen oder können? Was ist mit den Flüchtlingen, die in den umliegenden Ländern Tschetscheniens leben? Können die Stimmberechtigten nach der Abstimmung wieder in ihre Behausungen zurückkehren oder tappen sie in eine gefährliche Falle? Teilnahmemöglichkeiten außerhalb Tschetscheniens müssen grundsätzlich geprüft und gewährleistet sein. Es ist nämlich undenkbar, dass alle Tschetschenen in das ausgebombte und geplünderte Land reisen. Wie soll überhaupt in dem zerstörten Land mit seiner nur sehr rudimentären Administration ein Referendum, das demokratischen Normen entspricht, organisiert werden? Wer sind die Unterstützenden, die Berater, die Beobachter? Es ist auch unklar, ob die Tschetschenen überhaupt wissen, worüber sie abstimmen müssen. Kennen sie den Text des Referendums wirklich überall? An diesen offenen Fragen wird das Referendum im März unweigerlich scheitern.

Die Tschetschenen hatten zudem bisher anderes zu tun, als sich mit politischen Inhalten auseinander zu setzen. Sie müssen sich vielmehr als Familien und Individuen nach den vielen physischen, materiellen und psychischen Verletzungen finden. Viele Menschen sind getötet worden, tausende verletzt, entwürdigt und verschollen. Vor allem die russischen Militärs machen ihre Folterarbeit sehr gründlich, ihre Handschrift ist oft tödlich. Wir wissen dies aus vielen Zeugenaussagen, die von Vergehen gegen die Zivilbevölkerung berichten. Dies sind erschreckende Beispiele. Unter dem Vorwand der Identitätsprüfung umzingeln die russischen Militärs auf tage- oder monatelang ganze Dörfer und Quartiere. Die Bewohner sind faktisch Gefangene. Sie werden systematisch angehalten oder in die Filtrationscamps gezwungen, von denen sie nicht mehr zurückkehren. Gezielte Festnahmen, Zerstörung von Häusern und Wohnungen, Folter, Verschleppungen und Vergewaltigungen, die Verseuchung und Verknappung von Wasser sind Verbrechen, die sichtlich auf höchstem Niveau geplant sind. Ich erinnere hier übrigens an Oberst Budanow, der nicht verurteilt werden soll.

Ein Referendum für eine verängstigte, erschöpfte Zivilbevölkerung kann nur ein schlechter Beginn für einen wirklichen Friedensprozess sein. Damit ein demokratischer Neubeginn wirklich Chancen hat, müssen die verschiedenen Bedingungen zuerst genau erfüllt sein.

Michael SPINDELEGGER, Österreich, EPP/PPE

Danke, Herr Präsident. Geschätzte Kollegen des Europarates.

Leider stehen in Tschetschenien immer noch Unsicherheit und Gewalt auf der Tagesordnung. Wir beschäftigen uns schon lange genug mit dem Thema und stellen voller Schrecken fest, dass eine substantielle Veränderung noch nicht in Sicht ist.

Heute haben wir im Europarat die Entscheidung zu treffen, ob wir, als Parlamentarische Versammlung, das Referendum am 23. März aufschieben wollen oder nicht. Folgt man den Standards des Europarates, dann müssten wir dies sicherlich tun, und der Berichterstatter hat dazu viele zutreffende Argumente angeführt. Ich glaube aber, liebe Kollegen, dass wir diesen Gedanken auch zu Ende denken müssen. Was bedeutet eine Verschiebung? Was bedeutet es, die Standards zu erfüllen, die im Bericht von Lord Judd aufgelistet sind? Können wir dann wirklich noch in diesem Jahr zu einem Referendum kommen, wie meine Vorrednerin gemeint hat? Wer kann das glauben, wenn wir die strengen Standards des Europarats an eine solche Abstimmung anlegen? Ich denke, keiner von uns kann eine Garantie dafür geben, dass dieses oder nächstes Jahr solche Standards in Tschetschenien erreicht werden können.

Wir sollten außerdem bedenken, was von einer solchen Volksabstimmung abhängt. Ohne ein solches Referendum gibt es keine freien Wahlen. Ohne freie Wahlen gibt es keine Versammlung. Ohne die Versammlung wird es keine Selbstverwaltung in Tschetschenien geben. Dies müssen wir mit berücksichtigen, wenn wir uns dieser Frage nähern. Wir haben hier sicher keine leichte Entscheidung zu treffen. Wir müssen abwägen zwischen den unsicheren Bedingungen und ungewissen Verhältnissen, unter denen eine solche Abstimmung ablaufen kann. Andererseits bedeutet das Referendum einen Neuanfang, den Start für einen demokratischen Prozess in sehr kleinen Schritten. Es kann eine Initialzündung dafür geben, dass manche Bürger in Tschetschenien in dieser tristen Situation vielleicht wieder Hoffnung schöpfen. Ein Referendum kann all das, was sich die Bürger dort erwarten, in Bewegung setzen.

Wir haben dies in unserer Fraktion, der EPP, lange diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es unter diesen schwierigen und außerordentlichen Bedingungen vorzuziehen ist, jetzt ein vorbereitetes Referendum durchzuführen –  mit allen Schwierigkeiten, die sich darum ranken. Wir könnten dadurch jetzt ein erstes Zeichen der Hoffnung setzen. Ich bin überzeugt davon, dass man mit einer strengen Beobachtung und einer anschließenden Diskussion einen solchen Anfang machen kann. Wenn wir jetzt nicht mit einem Referendum erste Maßnahmen für freie Wahlen ergreifen, dann wird sich dieser Anfang sehr lange hinauszögern. Ich glaube nicht, dass wir dies als Europarat verantworten können.

In Abwägung dieser Umstände sind wir deshalb dafür, das Risiko unter diesen schwierigen Bedingungen einzugehen. Ich möchte Sie daher bitten, die entsprechenden Änderungsanträge zu unterstützen. Danke schön.

Lili NABHOLZ-HAIDEGGER, Schweiz, LDR

Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Sie kennen alle das berühmt gewordene Wort von Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Man kann dieses Wort auch umkehren, auf die heutige Debatte anwenden und sich fragen ob nicht der vom Leben bestraft wird, der zu früh kommt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der Europarat als derzeit einzige europäische politische Institution hat eine hohe Verantwortung, wenn er sich über die Frage des Zeitpunkts der Abhaltung eines Verfassungsreferendums ausspricht. Selbst aus einem Land mit einer hoch entwickelten Referendumskultur stammend, kann ich es nicht hoch genug schätzen, ein Referendum als Befriedungsinstrument einzusetzen. Damit ein Referendum um eine Verfassung aber tatsächlich zu einem Friedensinstrument, zu einer Chance für einen dauerhaften Frieden werden kann, muss man bedenken, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen eine solche Volksabstimmung stattfinden kann.

Ob ein Verfassungsreferendum überhaupt im jetzigen Zeitpunkt eine Chance hat, zu der viel beschworenen politischen Lösung beizutragen, ja diese überhaupt einzuleiten, und nicht zu einer reinen Farce zu verkommen, hängt im Wesentlichen davon ab, ob es gelingt, zuvor die Lage in der Republik Tschetschenien einigermaßen zu stabilisieren. Diese Stabilisierung muss weit über technisch-organisatorische Mindestbedingungen hinausgehen, die notwendig sind, um ein solches Referendum durchzuführen. Es geht doch, Kolleginnen und Kollegen, um nichts anderes als um die Grundfrage, ob diese Abstimmung unter Bedingungen möglich ist, die eine freie und faire Willensbildung der Stimmberechtigten ermöglicht. Die Frage wurde gestellt, was geschieht, wenn das Referendum nicht abgehalten wird. Dem Referendum zur Verfassung soll eine Wahl folgen, die sich auf eine frei und fair beschlossene Verfassung stützen muss. Wir wissen alle, dass anderenfalls auch die kommenden Wahlen nicht frei und fair durchgeführt werden können, eine Forderung, die der Europarat immer und immer wieder zu Recht erhebt, bei allen Wahlen, die durchgeführt werden und bei denen er als Beobachter tätig ist.

Kolleginnen und Kollegen, ich hatte Gelegenheit, vor gut zwei Monaten in Tschetschenien zu weilen. Ich musste nicht nur Berichte auf Papier konsumieren und konsultieren und mir Reden in diesem hohen Haus anhören, sondern ich habe mir einen eigenen Eindruck verschaffen können. Ich habe mit Leuten auf der Straße, in den Lagern, in den unsäglichen Ruinen von Grosny sprechen können, und alle haben gesagt, wie wichtig es sei, dass Frieden kommt. Es ist aber auch wichtig, dass die Gewalt – bevor man von Frieden sprechen kann – endlich aufhört. Es ist auf allen Seiten genug gelitten worden. Wenn wir diesem Leiden ein Ende setzen wollen, dann müssen wir ein Instrument einsetzen, das dazu tauglich ist. Das kann ein Referendum sein. Zum jetzigen Zeitpunkt aber wird ein Referendum nur ein Quell weiterer Auseinandersetzung und bewirkt das Gegenteil dessen, was wir uns alle für die Tschetschenen, aber auch für den ganzen Kontinent wünschen.

Andreas GROSS, Schweiz, SOC

Danke, Herr Präsident. Meine Damen und Herren.

Ich verstehe gut, dass Herr Spindelegger soviel Hoffnung in ein Referendum hat. Ich verstehe auch gut, dass Herr Rogozin einen Neuanfang machen möchte. Wer jedoch nicht einfach eine blaue, unschuldige Hoffnung haben, sondern wirklich voraussetzen möchte, dass diese Hoffnung berechtigt ist, der muss begreifen, was letztlich ein Referendum ist. Ein Referendum ist der Ausdruck einer grundsätzlichen Verständigung auf eine neue Basis. Verschiedene Menschen verständigen sich in einem grundsätzlichen, langen Diskussionsprozess auf einen Neubeginn. Nur aus dieser Verständigungsarbeit kommt die von Ihnen gewünschte Legitimität. Sie möchten eine neue, legitime Grundlage für eine neue tschetschenische Politik in Tschetschenien und Russland. Diese Legitimation jedoch hat ihren Preis, und zwar eine tiefe und lange Diskussion, wie sie bis heute nicht möglich gewesen ist. Deshalb ist es zu früh.

Frau Nabholz-Haidegger hat davon gesprochen, dass man auch „zu früh kommen“ kann, und dies für einen sehr hohen Preis. Herr Etherington hat Ihnen gesagt, was die Kunst eines Referendums ist: diejenigen, die verlieren, müssen ihre Niederlage akzeptieren. Das können sie nur tun, wenn sie vorher den Eindruck gehabt haben, dass sie sich einbringen konnten. Ost-Timor ist ein gutes Beispiel dafür, was geschieht, wenn man zu früh kommt. Die Verlierer akzeptieren ihre Niederlage nicht und machen einen neuen Bürgerkrieg. Dieses Beispiel haben wir alle schon vergessen. In Ost-Timor wollten Australien, Portugal und die UNO mit Indonesien zusammen viel zu früh durch ein Referendum eine Entscheidung herbeiführen. Indonesien erklärte, dass über Autonomie oder Unabhängigkeit abgestimmt würde. Gleichzeitig bereitete die indonesische Regierung selbst die Milizen vor, die im Falle einer Entscheidung der Bevölkerung für die Unabhängigkeit den Bürgerkrieg wieder in Gang setzen würden. Der australische Außenminister wusste dies. Im Januar, also acht Monate vorher, sagte er, die Situation sei gefährlich, er habe Angst und wolle dies nicht. Genau das würde hier wieder passieren. Wenn es ohne Verständigungsarbeit zu schnell zu einem Referendum kommt, werden die Verlierer – in dem Falle nicht die Russen sondern die tschetschenischen Terroristen und diejenigen, welche die Separation wollen – ihre Niederlage nie akzeptieren und erst recht wieder Waffengewalt gebrauchen. Es könnte dann zu noch mehr Toten und Vertriebenen als in Ost-Timor kommen, wo 250 000 Menschen den Preis für diese Politik bezahlt haben. Dies ist fatal. Wir sollten solche Dinge aus der Geschichte lernen und nicht mit Referenden spielen.

Deshalb ist der Bericht von Lord Judd genau richtig. Ich verstehe Sie, wenn Sie sagen, dass wir etwas vorschlagen müssen. Deshalb schlägt der Bericht vor, dass gewisse Bedingungen – nicht im Sinne von schweizerischen, dänischen oder finnischen Verhältnissen, aber gewisse minimale Bedingungen – für Verständigungsarbeit und Diskussion gewährleistet sein müssen. Ansonsten kann man die Güte, den Profit, das Produkt des Referendums gar nicht ernten. Deshalb ist es zu früh. Es muss noch etwas geleistet werden. Es ist nicht an uns, über der Moment zu entscheiden, aber es muss zuerst noch etwas getan werden, damit dieses Referendum Sinn macht und nicht zu einer noch viel größeren Katastrophe führt wie wir sie jetzt schon erleben.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

In Tschetschenien hat es viele schwere Verbrechen gegeben. Sie werden von der Staatsanwaltschaft untersucht. Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass es nicht gelingt, die Verantwortlichen zu ermitteln. Wir wollen hier beklagen, dass wir inzwischen Zweifel haben, ob es wirklich intensive Bemühungen gibt, diese Verbrechen aufzuklären. Die Versammlung soll auch bedauern, dass weiterhin ein Klima der Straflosigkeit in Tschetschenien herrscht.

Ich bitte Sie, dies in den Text des Resolutionsentwurfs aufzunehmen.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Es gibt zwei Orders, die in der Region eine besondere Bedeutung haben: die Order Nummer 80, die sich auf Militäroperationen bezieht und die bereits im Text enthalten ist; und die Order Nummer 46, die sich mit der Überprüfung der Identität von Personen in Tschetschenien beschäftigt. Auch diese sollte beachtet werden.

Deshalb bitten wir, diesen Änderungsantrag zu unterstützen.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Dieser Änderungsantrag fordert, dass die verfassungsgemäßen Rechte auch denen gewährt werden müssen, die verhaftet worden sind. Sie dürfen kein Freiwild sein.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Es gibt ein Bundesgesetz über die Verfahren zur Unterdrückung des Terrorismus. Wir haben hier darüber debattiert. Das Ministerkomitee hat eine Expertengruppe eingesetzt und die Experten haben einige Empfehlungen zur Ergänzung dieses Gesetzes ausgesprochen.

Wir wollen deshalb hier darum bitten, dass die Empfehlungen, die im Ministerkomitee des Europarats erarbeitet worden sind, auch wirklich in das Gesetz eingearbeitet werden.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Wir haben Informationen über eine Reihe von Verbrechensuntersuchungen, die von der Generalstaatsanwaltschaft vorgenommen werden. Es handelt sich aber fast immer nur um reine Zahlen und es wird nicht angegeben, welche Art von Verbrechen untersucht werden.

Wir möchten erreichen, dass wir eine aktualisierte Liste und Informationen über die Art der begangenen und der noch weiterhin untersuchten Verbrechen bekommen.

Michael SPINDELEGGER, Österreich, EPP/PPE

Herr Vorsitzender, bei diesem Änderungsantrag geht es darum, wer wahlberechtigt sein soll. Den Berichten zufolge wissen wir, das 38 000 russische Soldaten abstimmen können sollen, nur weil sie schon längerfristig in Tschetschenien stationiert sind.

Aus meiner Sicht kann der Europarat nicht grundsätzlich akzeptieren, dass Besatzungssoldaten über die Zukunft des von ihnen besetzten Landes mit entscheiden. Darum sind wir dafür, dass die russischen Truppen von diesem Stimmrecht ausgeschlossen werden.

Michael SPINDELEGGER, Österreich, EPP/PPE

Danke, Herr Vorsitzender. Ich darf zunächst feststellen, dass der Ausschuss dazu einen mündlichen  Änderungsantrag beschlossen hat. Der Änderungsantrag lautet nunmehr: „Including refugees living in camps“. 

Wir wollen damit sicherstellen, dass auch alle Flüchtlinge, die in Flüchtlingslagern leben – egal wo auch immer – auch abstimmungsberechtigt sind. Das wird im Bericht von Herrn Iwiński auch zahlenmäßig  genau ausgeführt. Wir wollen daher – das geht aus dem Zusammenhang nicht klar hervor – noch einmal durch ein klares Votum feststellen, dass auch die Flüchtlinge in den Camps abstimmungsberechtigt sind.

Michael SPINDELEGGER, Österreich, EPP/PPE

Herr Vorsitzender, wie wir wissen gibt es auch Flüchtlingscamps außerhalb der russischen Föderation, zum Beispiel in Georgien.

Ich würde dies jedoch akzeptieren, um das insgesamt in einen Zusammenhang zu stellen, wenn die Mehrheit des Hauses dieser Meinung ist.

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Der Menschenrechtskommissar des Europarates Gil Robles hat ein sehr konstruktiv angelegtes Papier mit Empfehlungen darüber vorgelegt, welche Rechte im Besonderen beachtet werden müssen, wenn Leute bei Durchsuchungsaktionen verhaftet werden. Wir wollen hier darauf Bezug nehmen, dass diese Empfehlungen umgesetzt werden sollen. 

Rudolf BINDIG, Deutschland, SOC

Diese Versammlung hat sich wiederholt mit der Situation in Tschetschenien beschäftigt, so auch heute. Wir haben viele, auch politische Aspekte berücksichtigt. Weil es immer wieder Informationen über Menschenrechtsverletzungen gibt, scheint es notwendig, dass wir einmal ganz gezielt die Fälle zusammenstellen, in denen es zu schweren Verletzungen der Menschenrechte gekommen ist, und zwar auch individuelle Einzelfälle. Es gibt darüber viele Unterlagen, und wir sollten dazu einen gesonderten Bericht machen. Deshalb wollen wir, dass dieser Punkt in die Order aufgenommen wird.