AS (2006) CR25

 

Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2006

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(4. Teil)

BERICHT

25. SITZUNG

Dienstag, 03. Oktober 2006, 10.00 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH


Marieluise BECK, Deutschland, SOC

(Doc. 11050)

Schönen Dank, Herr Präsident,

ich finde, dass Herr Eörsi einen sehr guten Bericht vorgelegt hat für die kurze Zeit, die ihm zur Verfügung stand, und die Komplexität und Vielschichtigkeit, mit der Sie es in dieser Region zu tun hatten. Es ist sicherlich gegenüber dem Rückblick vor zehn Jahren wunderbar, dass die Waffen jetzt schweigen, und deswegen ist ein großer Schritt nach vorne gemacht worden; die Länder entwickeln sich. Trotzdem müssen wir sicherlich sehen, dass die Anspannung in der Region nach wie vor groß ist – in unterschiedlicher Weise in den Ländern -, und dass das Eis der Friedlichkeit, die wir im Augenblick haben, dünn ist.

Nach wie vor ist der extreme Nationalismus immer präsent. Er ist ein Problem und hindert diese Region, sich so rasch zu erholen, wie sie es sonst könnte. Deswegen möchte ich auf Ihren Punkt 6 eingehen, Herr Eörsi, in dem sie auf den Anteil verweisen, den auch Europa an der Tatsache hat, dass es immer noch an demokratischen Strukturen in Teilen des westlichen Balkans fehlt. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass in Dayton die internationale Gemeinschaft mit denen verhandelt hat, die später das ICTY unter Anklage gestellt hat, und dass Dayton auch zu Wahlen und zu Gesetzen für Wahlen geführt hat, die jetzt wie in Bosnien – und ich war in Sarajewo – den Wählern abverlangen, sich ethnisch zuzuordnen.

Ich kann bis zum heutigen Tag nicht verstehen, ob eigentlich Serben und Kroaten, Katholiken oder Serbisch-Orthodoxe, religiöse Kategorien sind; was ist denn, wenn ein Kind mit einem serbischen Vater und einer kroatischen Mutter auf die Welt kommt? Sind das Halbserben oder Halbkroaten? Ich möchte hier ganz offen sagen, dass mir als Deutscher bei solchen Überlegungen immer der kalte Schauer über den Rücken läuft. Ist es wirklich demokratisch, wenn Europa, und das haben sowohl die OSZE als auch wir hier akzeptiert, einem Land ein Wahlsystem zugrunde legt, in dem nicht jeder Bürger und jede Bürgerin passiv wählbar ist? Ein Jude oder eine Jüdin in Bosnien-Herzegovina kann nicht Teil des Staatspräsidiums werden. Eigentlich werden damit fundamentale demokratische Rechte verletzt, die wir so nicht stehen lassen sollten. Wir sollten uns nicht mit dem, was jetzt in Bosnien an zwar friedlichen und auch freien Wahlen stattgefunden hat zufrieden geben. Demokratischen Prinzipien, finde ich, genügen diese Wahlen nicht. Und das ist eine Forderung auch an uns, nicht nur an diese Länder.

Konkret noch zu Punkt 14: Sie weisen auf die Dringlichkeit der Erleichterung von Reisen, von Visa-Erteilung hin. Dies ist extrem wichtig. Wir sind uns als Außenpolitiker in der Regel einig, gerade auch für die Bekämpfung von Nationalismus, dass wir der jungen Generation die Möglichkeit zur Begegnung, zur Erfahrung im Ausland, zum Reisen, zum Studieren, zum Lernen geben müssen, wenn wir ihr kosmopolitische Zeichen setzen und sie aufgeschlossen machen wollen. Aber bestimmen tun dann die Innenpolitiker. Und die Innenpolitiker denken in sicherheitspolitischen Kategorien. Damit werden Visa-Regime errichtet, die häufig für diesen Gedanken der Offenheit und der Liberalität absolut kontraproduktiv sind. Wenn man weiter denkt, dass möglicherweise mit unterschiedlichem Zeitlimit Staaten des Balkans Mitglieder in der Europäischen Union werden, und wir dann vollkommen unterschiedliche Reisemöglichkeiten haben, und dann möglicherweise das Land, das zurückbleibt, eingesperrt ist und auch seine jungen Menschen einsperren muss, weil die Visa-Regimes sehr hart sind und Schengen dann regiert, dann haben wir nicht den Teil zur Überwindung des Nationalismus beigetragen, den wir beitragen müssten.

Und damit zur Frage der europäischen Perspektive für Europa: Es ist in der Tat so, dass natürlich auch die Menschen im Westbalkan spüren, dass Europa, die Europäische Union, in sich selbst unsicher ist, dass wir uns in der Krise befinden. Sie spüren, dass die eigentlich große Kraft, den Nationalismus zu überwinden – und damit auch schwierige Statusfragen, wie jetzt beim Kosovo, oder die innere Zerrissenheit des Landes Bosnien-Herzegovina -, dass diese eigentliche Kraft in einer wirklichen, ehrlichen Perspektive liegt, auch Teil der Europäischen Union zu werden. Ich finde den Begriff der road map hervorragend und schlage vor, dass wir ihn uns zu eigen machen. Schönen Dank.

Detlef DZEMBRITZKI, Deutschland, SOC

(Doc. 11050)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

natürlich möchte ich auch Herrn Eörsi für diesen Bericht danken, aber ich bitte um Verständnis, wenn ich am 3. Oktober, unserem 16. Wiedervereinigungstag, hinzufüge, dass wir ihn natürlich für besonders prädestiniert für diese Aufgabe halten, denn wir denken heute in Deutschland besonders an die historische Grenzöffnung, als zwischen Ungarn und Österreich der Zaun aufgeschnitten wurde und damit der Freiheit im wahrsten Sinne des Wortes ein Weg gebahnt wurde. Deshalb kann man dieses Ereignis heute auch beispielhaft für unsere heutige Diskussion nehmen.

Denn es ist unbestreitbar, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Länder des Westbalkans zu Europa gehören. Das zeigt ein Blick auf die Karte ebenso deutlich wie ein Blick auf unsere gemeinsame Geschichte. Und es ist unbestreitbar, dass die bemerkenswerten Fortschritte der Region bei der Stabilisierung und Demokratisierung wesentlich durch die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft gefördert wurden und werden. Deswegen ist es auch so besonders wichtig, dass wir heute noch einmal deutlich unterstreichen, dass wir zu den Zusagen von Thessaloniki stehen und dass dies weiterhin eine gute Basis ist, um den Prozess im Westbalkan voranzubringen.

Und ich sage, auch von unserer Seite als einem großen Mitgliedsland der EU aus, dass es doch ernsthaft niemand bestreiten kann, dass die Absorptionskraft der EU mit 450 Millionen Einwohnern nicht erschöpft ist, wenn man bedenkt, dass es um die weitere Aufnahme von 23 Millionen Menschen geht, die im Westbalkan leben. Aber man muss natürlich zugleich auch die Vorstellung mit ansprechen, dass eine Europäische Union mit 27, 30 oder 33 Mitgliedsstaaten sich nicht mit dem Prinzip der Einstimmigkeit regieren lässt. Deswegen ist es natürlich hier ganz wichtig, den Verfassungsprozess der Europäischen Union weiter zu beachten. Und hierin liegt sicherlich auch die Herausforderung für die bevorstehende Präsidentschaft Deutschlands in der EU, nämlich diesen Prozess der Vertiefung, also sprich der Wiederaufnahme und Umsetzung des EU-Verfassungsprozesses versuchen zu befördern, um die notwendigen strukturellen Voraussetzungen zur Aufnahme weiterer Länder zu schaffen.

Zugleich müssen wir die Bevölkerung in der Union mitnehmen und das Verständnis fördern, dass eine stabile, prosperierende Balkanregion innerhalb der Europäischen Union im Interesse Europas und seiner Sicherheit liegt. Zweifellos gibt es spezifische Probleme in der Region, die vorher gelöst werden müssen. Da ist zunächst einmal der Kosovo. Wir haben die Diskussion vertagt, doch erlauben Sie mir den Hinweis, dass ich die unbedingte Notwendigkeit einer Klärung der Statusfrage bis zum Jahresende nicht nachvollziehen kann, wenn bei einer Verlängerung des Verhandlungszeitraums um einige Wochen oder Monate vielleicht eine verträglichere Lösung möglich wäre. Gerade hier wäre das Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ angebracht.

Da ist aber auch die Frage einer Verfassungsreform in Bosnien-Herzegovina, die die Unzulänglichkeiten des Dayton-Vertrags überwinden hilft. Wir müssen hier von den lokalen Akteuren ein stärkeres Engagement zugunsten funktionsfähiger gesamtstaatlicher Strukturen einfordern. Ich persönlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann mir nicht vorstellen, dass die Dayton-Strukturen von Bosnien-Herzegovina mit den Strukturen und Wertvorstellungen der Europäischen Union kompatibel sind.

Ich denke, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Region vorangebracht werden muss, und dass die regionale Kooperation und die fortwährende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dort notwendig sind. Ich begrüße in diesem Zusammenhang wie andere Kollegen auch schon ausdrücklich die Forderung der vorliegenden Resolution zur Lockerung des Visa-Regimes der EU, welches die Entwicklungsmöglichkeiten der Westbalkan-Staaten gegenwärtig massiv behindert.

Wir brauchen, bei Wahrung der jeweiligen kulturellen Eigenheiten eine Ent-Ethnisierung der Politik in der gesamten Region. Denn die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts- sondern auch eine Wertegemeinschaft, in der alle Bevölkerungsgruppen zum friedlichen Zusammenleben verpflichtet sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist doch eigentlich anachronistisch und absurd, dass Tausende von Soldaten in einer Region Europas stehen müssen, um ein friedliches Zusammenleben zu sichern. Dies muss durch die Stärkung der eigenen Kräfte und durch den Abbau der Priorität im ethnischen Bereich überwunden werden. Ich denke, dass auch der offene gesellschaftliche Diskurs zur Aufarbeitung der jüngeren Zusammenarbeit gefördert werden muss, und dass wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, von heute auf morgen sicherlich weder das Verfassungsproblem in der Europäischen Union noch alle offenen Fragen auf dem Westbalkan lösen können.

Umso wichtiger ist es aber, die multilaterale und die bilaterale Zusammenarbeit um den konstruktiven Prozess des Zusammenlebens zu stärken.

Vielen Dank.