AL08CR12

AS (2008) CR 12

 

Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2008

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(2. Teil)

BERICHT

12. SITZUNG

Dienstag, 15. April 2008, 10.00 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH

Hakki KESKIN, Deutschland, UEL/GUE

(Doc. 11575)

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

Meine Damen und Herren!

Zunächst möchte ich mich sehr herzlich bei Herrn Amaral zu seinem hervorragenden Bericht zur Situation muslimischer Gemeinschaften bedanken, die sich mit dem Extremismus konfrontiert sehen.

Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen erneut auf drastische und zugleich tragische Weise, wie aktuell das Thema ist: In den Niederlanden hat der Rechtspopulist Wilders mit seinem Anti-Koran-Film zum wiederholten Mal die Muslime in aller Welt in den Pauschalverdacht des Terrorismus gerückt.

Der Islam erscheint demnach als Bedrohung für die seit der modernen Aufklärung gemachten Errungenschaften, und für die Liberalität.

Die seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 anhaltende Debatte bei Teilen der Gesellschaften, die den Islam zuallererst als Gefahr ansieht, hat bereits zu einem verheerenden Meinungsbild geführt: Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2006 stimmten 83 Prozent der Befragen in Deutschland der Aussage zu, der Islam sei fanatisch, und über 90 Prozent meinten, dass sie beim Stichwort Islam an die Benachteiligung und Unterdrückung der Frau denken würden. Drei Viertel der Bundesbürger sind sogar der Meinung, Islam und westliche Kultur passten nicht zusammen !

Dieses Bild ist in vielen der westlichen Gesellschaften leider nicht anders. Und genau diese ablehnende Atmosphäre ist es, die die Extremisten benötigen, um gewaltbereite Anhänger zu finden.

Konsequent müssen die Werte Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, und insbesondere Laizismus verteidigt werden. Die Instrumentalisierung der Religion für eigene Ideologien und politische Ziele muss entschieden bekämpft werden. Ein Aufweichen dieser Werte wäre Ausdruck einer falsch verstandenen Toleranz. Die muslimischen Gemeinschaften und Individuen müssen sich wie alle anderen auch zu den Menschenrechten und Verfassungsnormen bekennen und die Gesetze einhalten.

Die Menschen islamischen Glaubens müssen aber gleichzeitig alle Rechte eines demokratischen Rechtsstaates uneingeschränkt und ohne Diskriminierung genießen können. Nur dann kann mit einem loyalen und solidarischen Verhalten der muslimischen Minderheiten gerechnet werden!

Völlig zu Recht weist der Bericht darauf hin, dass es in der staatlichen und gesellschaftlichen Verantwortung liegt, Diskriminierung, Rassismus, mangelnde Chancengleichehit und soziale Ausgrenzung als Nährboden des Extremismus auszutrocknen. Ignoranz und Abschottung gegenüber den Migranten müssen im politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereich energisch mit Antidiskriminierungs-Maßnahmen bekämpft werden!

Ich danke Ihnen!

Gisela WURM, Österreich, SOC

(Doc. 11569)

Danke, Herr Präsident!

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der politische Ausschuss und sein Berichterstatter, Herr Mota Amaral, haben einen Bericht zu den “muslimischen Gemeinschaften, die vor dem Problem des Extremismus stehen” vorgelegt, dem unsere volle Unterstützung gebührt. Die Vorschläge, die im Resolutionsentwurf und im Empfehlungsentwurf gemacht werden, haben das Potential, die Gefahr einzudämmen, die vom islamischen Fundamentalismus für unsere Gesellschaft ausgeht.

Unsere Gesellschaft fürchtet insbesondere Terroranschläge, die von islamischen Extremisten in unseren Heimatländern verübt werden. Diese Angst ist leider berechtigt, denn in einigen unserer Länder sind solche Anschläge schon verübt worden und haben eine große Zahl von Opfern gefordert. Es ist daher verständlich, wenn der politische Ausschuss sein Augenmerk insbesondere auf dieses Problemfeld richtet.

Allerdings sind die ersten Opfer islamischer Extremisten meist nicht die Gesellschaft als Ganzes, sondern Frauen und Mädchen, die selbst Mitglieder muslimischer Gemeinschaften sind. Als Gleichberechtigungsausschuss ist es unsere Pflicht, daran zu erinnern, dass islamische Extremisten nicht nur Bombenbau und “Jihad” propagieren, sondern auch die Unterdrückung der Frau.

Wie wir wissen, erschöpft sich diese propagierte Unterdrückung nicht nur in Kleidungsvorschriften, sondern ist oft auch gewaltsamer Natur: Mädchen und Frauen, die in muslimischen Gemeinschaften leben, werden oft in ihrer Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit eingeengt, brutal beschnitten – ich erinnere an Genitalverstümmelungen -, und manchmal sogar ermordet, wenn sie nicht bereit sind, sich den islamisch-fundamentalistischen Vorschriften zu fügen, die ihre Familie oder auch das Umfeld ihnen macht.

Daher ist es höchste Zeit, dass wir dieser leider oft alltäglichen Gewalt gegen muslimische Frauen und Mädchen einen Riegel vorschieben. Genausowenig, wie wir es zulassen dürfen, dass islamische Extremisten im Namen des Glaubens Terroranschläge predigen, dürfen wir es zulassen, dass dieselben Extremisten Gewalt gegen Frauen rechtfertigen. Es ist unsere Pflicht, gegen diese Art der Negierung der Menschenrechte, gegen diesen Relativismus anzukämpfen.

Wenn man muslimische Frauen und Mädchen aus der Opferrolle befreit, können diese einen positiven Einfluss auf ihre Gemeinschaften ausüben. Die traditionelle Erziehung, die Mütter unter dem Einfluss des islamischen Fundamentalismus ihren Söhnen angedeihen lassen, ist nicht hilfreich, wenn es um die Integration in unsere säkularen Gesellschaften geht.

Es gilt, diesen Frauen die Macht zu geben, sich dem islamischen Fundamentalismus entgegenzustellen, indem wir ihnen Zugang zu Bildung und Arbeit, zu Einrichtungen wie Frauenhäusern, wenn es zu Gewaltanwendung kommt, und damit zu Stärke und Selbstbewusstsein ermöglichen. Darin sollten wir finanzielle Mittel und viel Kraft unserer Gesellschaft investieren.

Unser Ausschuss hat drei Änderungsanträge vorgelegt, die Sie hoffentlich anerkennen werden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Danke Ihnen, Frau Wurm.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

Sehr geehrter Herr Präsident,

Serh geehrte Abgeordnete,

Liebe Kolleginen und Kollegen,

Herzlichen Dank für die Einladung zu Ihnen nach Straßburg.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Straßburg oft als “Hauptstadt Europas” bezeichnet wird. Denn immerhin gibt es hier ja gleich zwei Parlamente, die Europa entscheidend mitgestalten und prägen, und das auch in den vergangenen Jahren getan haben.

Heute freue ich mich, zum ersten Mal vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg sprechen zu können. Diese Parlamentarische Versammlung ist ein besonderer Ort. Sie war die erste ihrer Art in der Geschichte Europas. Heute sind hier Abgeordnete aus 47 nationalen Parlamenten vertreten. Das zeigt unsere Vielfalt, und mir ist es deshalb ein ganz besonderes Vergnügen, heute hier bei Ihnen zu sein.

Die Versammlung wird allein dadurch, dass aus 47 Ländern Parlamentarier hier miteinander beraten, ein Ort des unverzichtbaren politischen Austauschs über die Grenzen in Europa hinweg, unverzichtbar gerade deshalb, weil die einzelnen Nationen natürlich in Zeiten zunehmender Globalisierung immer enger zusammenwachsen; wir spüren das, aber wir spüren natürlich an vielen Diskussionen auch noch, wo die Unterschiede und die verschiedenen Sichtweisen anzusiedeln sind.

Politische Entscheidungen der einzelnen Länder haben immer mehr auch Auswirkungen auf das, was in anderen Ländern passiert. Wir stehen zunehmend vor denselben Herausforderungen und haben dieselben Probleme zu lösen. Deshalb erleben wir, dass Außenpolitik immer mehr zur Innenpolitik wird – oder Innenpolitik immer mehr Außenpolitik, d.h. dass man diese klassische Trennlinie, wie wir sie einmal hatten, überhaupt so nicht mehr ziehen kann.

Daraus entwickelt sich natürlich ein Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für ein gedeihliches Miteinander in Europa. Dieses entwickelt sich in ganz besonderer Weise hier in dieser Parlamentarischen Versammlung. Damit haben Sie in den letzten Jahren und in den Jahren Ihrer Existenz einen unschätzbaren Beitrag zum Zusammenwachsen, zur Einigung, zum gemeinsamen Verständnis in Europa geleistet.

Den Europarat gibt es jetzt seit insgesamt fast 60 Jahren. Er steht in dieser gesamten Zeit für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Freiheit und Frieden, für Vielfalt und Toleranz, für Gerechtigkeit und Solidarität. Und genau das sind die Werte, die Eruopa in seinem Kern zusammenhalten.

Sicherlich gründet Europa auch auf gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen und auf dem Willen, unsere Zukunft besser zu gestalten. Daraus haben sich ja auch im Laufe der Zeit viele gemeinsame Projekte entwickelt, wie der Binnenmarkt, der Schengen-Raum, der Euro.

Doch erst auf der Grundlage anerkannter, gemeinsamer Werte konnte in Europa ein historisch neues Miteinander von größeren und kleineren Staaten entstehen. Ein Miteinander, das sich auszeichnet durch Vertrauen zueinander und Respekt voreinander.

Wir wissen, dass das zu einer Periode der Geschichte geführt hat, in der kriegerische Auseinandersetzungen zumindest sehr viel weniger geworden sind. Aber wir wissen auch, dass nur im Europarat fast alle Staaten Europas versammelt sind. Sie alle eint das gemeinsame Streben nach gemeinsamen Werten. Wir werden bei denen, die noch nicht dabei sind, natürlich darum ringen, dass auch sie in den Europarat kommen.

Deutschland trat 1951 dem Europarat bei. In diesem Jahr hielt der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, vor der damals noch Beratenden Versammlung des Europarats eine Rede. Darin sagte er :

„Es bedeutet viel für die politische Entwicklung Europas, dass wir hier in den Organen des Europarats eine Plattform haben, auf der sich die Repräsentanten Europas regelmäßig begegnen, ihre Sorgen und Nöte, ihre Wünsche und Hoffnungen austauschen, gemeinsame Kriterien für die Bewertung ihrer Bedürfnisse zu entwickeln versuchen und überhaupt in einem Geiste der Fairness und der guten Nachbarschaft zusammenarbeiten; mit anderen Worten : Wir haben hier das europäische Gewissen.“

Seit fast 60 Jahren wacht nun der Europarat als „eukropäisches Gewissen“ über unsere gemeinsamen Werte – Werte, die letztlich in der Würde jedes einzelnen Menschen gründen.

So hat der Europarat geholfen, das Handeln der Regierungen unter das Gebot der Wahrung der Menschenrechte zu stellen. Es ist ein dauerhaft gültiges Gebot, das die Grundlage für das Zusammenleben der Menschen und für die Beziehungen zwischen Mensch und Staat ist.

Richtig ist: Die Menschenwürde ist unteilbar; sie hat in allen Ländern Europas den gleichen Stellenwert. Doch richtig ist auch: Es gibt ganz verschiedene Ausprägungen und Praktiken in der Wahrung der Menschenwürde. Das ist natürlich auch auf unterschiedliche historische Erfahrungen und Traditionen zurückzuführen.

Vermutlich ist das auch etwas, das Papst Johannes Paul II. dazu veranlasste, in seiner Ansprache 1988 vor der Parlamentarischen Versammlung anzumerken: „Die europäische Identität ist keine leicht erfassbare Wirklichkeit“.

Nun wissen wir aber: Seit 1988, als Papst Johannes Paul II. in dieser Versammlung war, hat sich Europa entscheidend verändert. Heute ist eine europäische Identität wesentlich klarer zu erkennen als noch vor 20 Jahren.

Der Fall des eisernen Vorhangs, das Ende des Kalten Krieges, hat die widernatürliche Teilung Europas beendet. Zum ersten Mal haben sich auf der Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention die Anfänge einer gemeinsamen europäischen Identität herausgebildet.

Ich habe die ersten 35 Jahre meines Lebens in der ehemaligen DDR verbracht. Während des Regimes der SED gab es nicht die Möglichkeit, diskriminierende und ungerechte Behandlungen staatlicher Stellen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Sprache zu bringen.

Das änderte sich schlagartig in Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, und in vielen Teilen Europas dadurch, dass die Freiheit Einzug gehalten hat. Und so haben in den Jahren nach 1990 viele Länder Mittel- und Osteuropas Schritt für Schritt von einer Parteiendiktatur Abschied genommen und sich zu Demokratien entwickelt.

Sie haben den Weg in eine freiheitliche Gesellschaft eingeschlagen: mit demokratischer Stabilität, mit einem Mehrparteiensystem in den allermeisten Fällen, mit einer handlungsfähigen Opposition, mit einer unabhängigen Justiz, mit staatlicher Gewaltenteilung und mit freien Medien.

Jeder weiß, dass all dies nirgendwo eine Selbstverständlichkeit ist, und dass es immer wieder erkämpft werden muss und darauf geachtet werden muss, dass die Dinge nicht in Frage gestellt werden.

Ich habe den Wandel in meinem eigenen Land erlebt. Deshalb sage ich aus voller Überzeugung: Auch wenn Veränderung kaum möglich zu sein scheint, so ist sie dennoch möglich. Wir alle, die wir hier sitzen, haben vieles an Veränderung erlebt, was wir alle vor 20 Jahren noch nicht so für möglich gehalten hätten.

Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung auch Signalwirkung für andere Regionen der Welt haben kann – Regionen, in denen Stabilität heute kaum denkbar erscheinen mag, aber eben aus unserer Erfahrung und dadurch eben aus unserer Überzeugung keineswegs nur Vision bleiben muss.

Wir sind in Europa aber sicher noch nicht am Ende dieser Erfolgsgeschichte angelangt. Ich glaube, man kann sagen, Europa ist eine Daueraufgabe. Am Haus Europa gibt es immer etwas zu verbessern. Und das gelingt uns umso mehr, je mehr wir uns alle mit dem europäischen Projekt identifizieren.

Die europäische Identität, von der ich sprach, ist noch immer im Werden begriffen. Ihre Stärkung war immer auch ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im vergangenen Jahr.

Und so haben wir, als wir in Berlin den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge feierten, eine Erklärung verabschiedet. Darin haben wir noch einmal unterstrichen, was uns in Europa verbindet: Unsere Werte, auf deren Grundlage wir Zukunft politisch gestalten.

An unseren Taten, an unserem Handeln, wird man dann sehen, ob wir diese Werte wirklich auch durch- und umsetzen. Deshalb ist es eine Frage unserer Werte, ob wir es schaffen, der Globalisierung ein menschliches Gesicht zu geben.

Es ist eine Frage unserer Werte, gemeinsam den Klimawandel entschlossen zu bekämpfen und ihm entgegenzutreten.

Es ist auch eine Frage unserer Werte, ob wir handelspolitischen Interessen einen Vorrang vor Menschenrechten einräumen, oder ob wir – und davon bin ich überzeugt – sagen: Wirtschaftsfragen und Menschenrechtsfragen müssen und dürfen keine Gegensätze sein. Deshalb heißt es immer: Grundregeln müssen auch in Handelsfragen eingehalten werden.

Kurzum: Unseren Werten Geltung zu verschaffen, ist nichts Abstraktes, nichts für Sonntagsreden. Sondern, wie es sich täglich in unserem politischen Handeln dokumentiert, sei es zu Hause oder auf der europäischen Bühne: Die Herausforderung, unsere Werte zu leben, stellt sich täglich aufs Neue. Trotz aller Erfolge des Europarats wird er deshalb weiter Wächter über die Werte Europas sein.

Das möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: einmal im Hinblick auf die Terrorismusbekämpfung und zum Zweiten im Hinblick auf den Schutz von Minderheiten.

Zunächst zum internationalen Terrorismus. Spätestens seit den Anschlägen in Madrid und London wissen wir: Der Kampf gegen den Terrorismus wird auch in Europa ausgetragen. Es gilt aber allerdings darauf zu achten, die legitimen Sicherheitsbedürfnisse der Menschen in Übereinstimmung zu bringen mit dem Schutz der Grundrechte des Einzelnen.

Sicherheitsinteressen und der Schutz unserer Rechtsvorstellungen müssen stets sorgfältig abgewogen werden. Und wir alle wissen aus der Gesetzgebung, wie schwierig das im Einzelfall sein kann. Es mag auch nicht in jedem Fall zweifelsfrei verlaufen. Doch umso wichtiger ist es, dass unsere Demokratien auf Gewaltenteilung, auf Interessenausgleich und auf Partizipation basieren, sodass wir beim Betreten dieses Neulands auch immer wieder den richtigen Weg finden.

Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Rolle des Menschenrechtskommissars des Europarats hervorheben.

Thomas Hammarberg hat Deutschland im Herbst 2006 besucht. Deutschland weiß um die Bedeutung konstruktiver kritischer Betrachtung von außen. Für diese offen zu sein, hilft, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken. Sie rüttelt auf, sie zeigt Defizite auf und führt dazu, diese Defizite zu beseitigen.

Ich sage ausdrücklich: Nicht immer ist es leicht, wenn man mit Kritik leben muss, aber das ist eben Teil der Demokratie.

Es ist deshalb gut, dass es in Europa eine Pflicht zur gegenseitigen Einmischung gibt, wenn es um die Menschenrechte geht. Es gibt in Menschenrechtsfragen keine „inneren“ Angelegenheiten eines Landes, mit denen man sich vor Beurteilung des Menschenrechtskommissars schützen kann.

Daraus erwächst natürlich einer solchen supranationalen Institution wie dem Europarat eine besondere Rolle, die er auch sehr selbstbewusst wahrnimmt. Mit seinem System gegenseitiger Kontrolle staatlichen Handelns scheut sich der Europarat nicht davor, wenn nötig auch immer wieder den Finger in die Wunde zu legen.

Damit wird er natürlich zum Garanten dafür, dass Bürgerinnen und Bürger vor einem unabhängigen Gerichtshof die Einhaltung ihrer Grundrechte einklagen können.

Auf diese Weise hilft er wiederum, dass Politiker auch im Bemühen um Terrorismusbekämpfung angemessene Entscheidungen treffen, die Freiheitsrechte nicht über Gebühr einschränken.

Damit der Europarat in dieser Funktion erfolgreich sein kann, müssen seine unterschiedlichen Instrumetne und Organe – Parlamentarische Versammlung, Ministerkomitee und Gerichtshof – vor allem eins: Sie müssen im Bewusstsein des gemeinsamen Einsatzes für die Werte Europas so eng und reibungslos wie möglich zusammenwirken, wie dies für die Bewältigung der Aufgaben notwendig ist.

Das gilt genauso für das zweite Beispiel, das ich genannt habe: den Umgang mit Minderheiten.

Dieses Thema ist eine riesige Herausforderung in Europa und auch für die europäische Außenpolitik. Wir haben es weltweit und auch in Europa mit ungelösten Minderheitenkonflikten zu tun.

Einerseits gibt es den Wunsch einzelnder Bevölkerungsgruppen nach kultureller und politischer Selbstbestimmung. Dem steht andererseits das Interesse von Staaten an der Wahrung ihrer territorialen Integrität entgegen. Auch hier handelt es sich wieder um Spannungsfelder, die wir im konkreten Fall versuchen müssen, aufzulösen. Wie schaffen wir die Gratwanderung zwischen Autonomiebestrebungen und dem Bemühen um nationalen Zusammenhalt?

Auch das wissen Sie: Es gibt kein Patentrezept. Doch eins steht fest: Gewalt darf in keinem Fall die Antwort auf Kontroversen sein. Gewalt ist nicht vereinbar mit unseren grundlegenden Werten.

Der Schlüssel dazu, Kulturkämpfe zu verhindern, liegt im Dialog. Nur über den Dialog kann gesellschaftliche Integration und Teilhabe gelingen.

Das ist sicher leichter gesagt als getan. Denn wie gehen wir denn mit der wachsenden Zahl von Migranten in Europa um? Inwieweit erfüllt sich ihr Wunsch nach Beibehatlung ihrer kulturellen Identität? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch auf Integration?

Wir alle wissen, dass unsere Gesellschaften durch Migration vielfältiger werden. Die Wahrung des sozialen Friedens erfordert es, neue Mitbürgerinnen und Mitbürger in unsere Gesellschaften einzubinden – das gilt natürlich auch für diejenigen, die einen anderen Glauben haben als die Mehrheit.

Natürlich beschäftigen diese Fragen auch meine Regierung. Ganz bewusst habe ich eine Regierungsbeauftragte für Migrations- und Integrationsfragen im Bundeskanzleramt angesiedelt, weil dies eine der herausforderndsten Schwerpunktaufgaben ist.

Wir haben einen Dialog mit Vertretern von Mitbürgern mit Migrationshintergrund in Deutschland ins Leben gerufen, den sog. Integrationsgipfel. Hier lernen wir, die gegenseitigen Erwartungen offen auszusprechen und Wünsche und Kritik offen zur Sprache zu bringen.

Ob nun in Deutschland oder in anderen Ländern Europas: Wir spüren dabei, dass es ganz einfache Antworten auf Fragen der Migration und Integration nicht gibt. Das Allerwichtigste ist es, erst einmal miteinander zu reden, sich kennen zu lernen, sich besser zu verstehen und dann die Dinge zu lösen.

Daher begrüße ich auch ausdrücklich, dass Sie hier im Europarat den interkulturellen Dialog begonnen haben; ich glaube, dies ist ein ganz wichtiges Zeichen auch für unsere nationalen Aktivitäten.

Terrorismusbekämpfung und Integration, das sind nur zwei Beispiele unter vielen anderen, die eine werteorientierte Politik erfordern.

Die Werteorientierung der im Europarat vereinigten Länder kommt natürlich vor allen Dingen in der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Ausdruck; das ist sozusagen die Plattform, auf der wir alle arbeiten. Sie zielt darauf ab, den immerhin 800 Millionen Menschen in Europa Schutz vor staatlicher Willkür zu gewährleisten.

So können sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen eine Verletzung ihrer Grundrechte klagen. Ein solches Menschenrechtsschutzsystem ist weltweit einzigartig. Über 50.000 Bürgerinnen und Bürger machen jedes Jahr von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das ist ein eindrucksvolles Zeugnis für das Vertrauen, das der Gerichtshof in ganz Europa genießt.

Ich habe mir heute Morgen auch vor Ort ein Bild von seiner Arbeit machen können. Präsident Costa hat mir geschildert, welche großartige Arbeit die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs leisten. Aber ich war auch in der Registratur, wo die Klagen eingehen, und konnte mich auch davon überzeugen, dass der Gerichtshof an seine Kapazitätsgrenze gestoßen ist.

Ich glaube, wir sind uns einig: Der Gerichtshof braucht eine geeignete Reform. Sie ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems des Menschenrechtsschutzes in Europa. Denn wenn man klagen darf, aber die Klage nie bearbeitet wird, dann ist natürlich das rechtsstaatliche System nicht überzeugend.

Deshalb möchte ich auch deutlich sagen: Wir dürfen die Reform des Gerichtshofes nicht blockieren. Wer das tut, stellt letztendlich unsere gelebte, gemeinsame Wertebasis zur Disposition.

Ich habe während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit Präsident Putin darüber gesprochen, wie notwendig es ist, eine rasche Ratifizierung des Zusatzprotokolls 14 zur Menschenrechtskonvention durch Russland zu erhalten. Ich habe auch mit dem Parlamentspräsidenten der Duma gesprochen und wir als Bundesregierung haben dies sehr häufig vorgebracht.

Ich glaube, dieses Zusatzprotokoll eröffnet dem Gerichtshof Möglichkeiten für eine effizientere und raschere Arbeit. Da ich weiß, dass hier auch Vertreter der Duma im Raume sind, möchte ich danken, dass Sie sich für die Ratifizierung dieses Protokolls in der Duma eingesetzt haben.

Ich hoffe, dass jetzt, in der neuen Duma, die Zeit gekommen ist, noch einmal mit einem anderen Blickwinkel auf dieses 14. Zusatzprotokoll zu schauen und eine Ratifizierung auch durch Russland zu erreichen. Das würde ich sehr begrüßen; es ist im Interesse Aller.

Die Europäische Menschenrechtskonvention gab es lange, bevor wir in der Europäischen Union über eine Grundrechte-Charta diskuktiert haben; auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit. Auch wäre die EU in ihrer heutigen Form ohne die Vorarbeit des Europarats völlig undenkbar. Jeder EU-Mitgliedstaat war zuvor auch Mitglied im Europarat.

Europarat und Europäische Union sind unterschiedlich, aber komplementär. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist es erfreulicherweise gelungen, ein Memorandum of Underständig zwischen EU und Europarat zum Abschluss zu bringen. Ich denke, wir brauchen einen engeren Austausch zwischen EU und Europarat.

Dass der Vorsitzende des Ministerrates hier auch ein Mitglied des Außenministerrates der EU ist und heute hier anwesend ist, zeigt ja, wie es möglich ist, diese enge Kooperation noch weiter zu verbessern.

Ein weiterer wichtiger Schritt in der Zusammenarbeit beider Organisationen wird der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention sein. Das sieht ja jetzt der Vertrag von Lissabon vor.

Wir haben genau aus diesem Grunde sehr dafür gearbeitet, dass wir als EU eine Rechtspersönlichkeit werden, was gar nicht so einfach war. Ich hoffe, dass jetzt alle Staaten den Vertrag auch ratifizieren, damit wir dann die Möglichkeit haben, der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, was unsere gemeinsame Plattform noch einmal in unserer Arbeit unterstreichen würde.

Das bedeutet dann, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU individuell vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Brüsseler Rechtsakte vorgehen können, wenn sie sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen – das ist dann eine neue Qualität, die heute noch nicht so gegeben ist; die Brüsseler Rechtsakte sind sozusagen als solche noch nicht Gegenstand der Klagemöglichkeit vor dem Gerichtshof für Menschenrechte. Wir hoffen natürlich nicht, dass das dauernd passiert, aber die Möglichkeit ist dann gegeben.

Der Europarat ist also eine große europäische Erfolgsgeschichte. Er hat sich historische Verdienste um Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa erworben. Es sind allerdings Verdienste, die jede Generation aufs Neue erwerben muss. Ich sage das, weil manchmal die Gefahr besteht, dass das alles in einen Automatismus übergeht.

Jede Generation muss deshalb wieder mit den Formen unserer Kooperation bekannt, vertraut gemacht werden; sie muss sie leben, ausbauen und weiterentwickeln. Deshalb glaube ich, dass die Verdienste des Europarates Auftrag und Verpflichtung zugleich sind: Weiter an einem Europa zu arbeiten, das die Aufgabe hat, dem Wohl der Menschen, seiner Bürgerinnen und Bürger, zu dienen.

Deshalb mein Appell an Sie: Mischen Sie sich weiter ein! Prägen Sie weiterhin durch Ihre Beiträge die europäischen Debatten!

So bleibt die parlamentarische Versammlung des Europarates weiterhin ein wichtiger Impulsgeber für ein einiges Europa in Frieden, Freiheit und Demokratie, und damit vielleicht auch ein Beispiel in der Welt dafür, wie man aus scheinbar ausweglosen Situationen doch Lösungen, Hoffnungen finden kann. Und es gibt so viele Stellen in der Welt, wo das noch zu leisten ist, sodass wir, die Europäer, mit unseren - gemessen an jenen anderen Regionen der Welt - vergleichsweise auch überschaubaren Problemen hier ein gutes Beispiel geben könnten.

Herzlichen Dank, dass ich heute bei Ihnen sein darf.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn Van den BRANDE, EPP/CD / PPE/DC

Wir sind im Augenblick ja sehr an einer partnerschaftlichen Kooperation mit Russland interessiert; es gibt eine strategische Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland. Wir wollen das dokumentieren durch die Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein neues Kooperationsabkommen mit Russland. Dabei stehen wir, glaube ich, kurz vor dem Beginn. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema der Energiesicherheit, der Energiekooperation, der Implementierung des Grundgedankens der Energie-Charta eine wichtige Rolle spielen.

Wir haben im Lissabonner Vertrag die Zusammenarbeit im Energiebereich auch zu einem Thema der Europäischen Union und des Europäischen Rates gemacht, und wir wollen diesen Gedanken auch natürlich mit Russland diskutieren und im neuen Partnerschaftsabkommen dann auch Realität werden lassen.

Wir haben alle gemeinsam in der europäischen Union ein strategisches Interesse daran, gute, verlässliche Beziehungen zu Russland zu haben, und ich kann Russland immer wieder nur einladen, das wirklich auch auf Gegenseitigkeit beruhen zu lassen und Zusatzprotokoll Nr. 14 wäre ein guter Beitrag, um zu signalisieren: „Ja, wir schätzen diese Zusammenarbeit“.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn SZABO, SOC

Ich würde sagen, die theoretischen Grundlagen sind eigentlich in Ordnung. Wir haben uns ja im Rahmen der Lissabon-Strategie auch eine Vielfalt von Zielen gesetzt. Ich plädiere im europäischen Rat immer sehr dafür, dass wir auch sehen, ob wir diese Ziele erreichen.

Ich finde schon, dass wir im Augenblick als EU, als Binnenmarkt, auch im Blick auf die Krisen, die wir im amerikanischen Raum haben, doch ein hohes Maß an Robustheit haben. Der Euro hat sich bewährt, aber wenn wir unsere Innovationsfähigkeit anschauen, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit insgesamt anschauen, gibt es viel zu tun.

Wir haben uns verpflichtet, 25% von Bürokratie, gerade im Blick auf Berichtpflichten, abzubauen. „Better regulation“ ist das Stichwort, und ich finde, wir sollten das mit großem Eifer und auch großem Nachdruck verfolgen, und wir haben eine Vielzahl von Aktivitäten entfacht, die der Innovationsstärke Europas dienen, gerade auch im Hinblick auf kleine und mittlere Unternehmen.

Ich glaube, durch das Thema Klimaschutz und seine Einsetzung in eine vernünftige wirtschaftliche Form der Realisierung, also durch wirkliche Nachhaltigkeit, unter Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und ökologischer Aspekte gleichermaßen, kann Europa zeigen, dass Wachstum auch nachhaltig möglich ist. Hier sind wir in vielen Bereichen auch schon ein Vorbild, auch im Hinblick auf asiatische Gebiete, wo natürlich sehr dynamisch agiert wird, aber wo wir sicherlich im Blick auf die Nachhaltigkeit noch einen guten Austausch pflegen können.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn CAVUSOGLU, EDG/GDE

Wir ziehen das natürlich in Betracht, aber jede konkrete Rechtsetzung - und Sie denken sicherlich an das Zuwanderungsgesetz - ist natürlich auch immer eine detaillierte Umsetzung der Grundgedanken, und da gibt es im Einzelfall natürlich Diskussionen.

Wir glauben zum Beispiel, dass wenn Ehepartner zum Beispiel nachziehen, gerade aus Ihrem Lande oder aus anderen Ländern – hier gibt es nicht ein bestimmtes Land, das wir auswählen sondern aus anderen Ländern genauso – dass da ein Minimum an Sprachkenntnissen für Deutsch da sein sollte, weil wir so häufig in Deutschland erlebt haben, dass insbesondere Frauen nicht in der Lage waren, sich am Telefon zu artikulieren, wenn sie Hilfe brauchten oder andere ganz einfache Service-Leistungen in Anspruch nehmen wollten.

Was ist jetzt die Frage des Menschenrechtes? Ist die Frage des Menschenrechtes, dass jeder individuell dort, wo er dann lebt, die Möglichkeit hat, sich zu artikulieren, wenn zum Beispiel er in die Gefahr kommt, dass er Gewalt erleben muss? Oder ist, wenn ich jemanden dazu auffordere, eine andere Sprache zu lernen, bereits eine Verletzung der individuellen Würde? Das muss abgewogen werden.

Ich bitte nur darum, dass wir dies so diskutieren, dass die Absicht gesehen wird, die wir verfolgen, nämlich die, dass jeder, der zu uns kommt, auch in der Lage ist, ein eigenständiges Leben so zu führen, dass er damit klar kommt. Ich habe viele Gespräche über dieses Thema geführt, aber Sie dürfen davon ausgehen, dass wir alle Protokolle und Entschließungen des Europarates dabei auch im Kopf und nicht nur im Kopf, sondern auch im Geiste hatten.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn EÖRSI, ALDE/ADLE

Man soll sich ja hier im 30-Sekunden-Rahmen bewegen. Das ist bei der Frage nicht ganz einfach. Ich glaube, dass wir, jeder in seinem Leben, immer wieder versuchen müssen, nicht aus Angst einen Konflikt einzugehen und nicht vor etwas Richtigem zurückzuschrecken. Das ist ja oft ganz simpel: Sage ich etwas oder sage ich nichts? Setze ich mich auseinander, zeige ich Zivilcourage oder zeige ich es nicht?

Und ich glaube, jeder, ob Politiker oder ein Mensch, der ganz anderen Dingen nachgeht, hat diese Möglichkeit, und wenn er sich selber überprüft, weiß er auch, wo er geschwiegen hat, wo er das Wort hätte ergreifen müssen. Darüber offen zu sprechen und das einzufordern, ist vielleicht ein kleiner Beitrag dazu, dass wir besser auf der Welt zusammenleben, und sich ab und zu zu überlegen, dass der andere vielleicht auch nicht nur schlechte Gedanken hat, sondern auch eine gute Idee, könnte dazu auch noch beitragen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn KOX, UEL/GUE

Die Frage ist ja in diesem Zusammenhang, ob ein NATO-Schild schon Arroganz ist. Die NATO ist ja – wir haben darüber auf dem NATO-Russland-Rat miteinander gesprochen, die NATO ist ja ein Bündnis von Staaten, die bereit sind, einander zu schützen, d.h. Schutz zu bekommen von den anderen Mitgliedern, aber auch bereit zu sein, den Schutz der anderen Mitglieder mit zu übernehmen.

Damit ist die NATO kein abgeschlossenes geographisches Bündnis, wie man das zu den Zeiten des kalten Krieges vielleicht gedacht hat, sondern es ist ein offenes Bündnis, das auch auf Werten beruht. Jetzt darf man nicht die Europäische Union mit der NATO gleichsetzen. Da gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung, aber es gibt natürlich auch Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die nicht Mitglieder der NATO sind.

Ich glaube, Arroganz gewinnt dort, wo Toleranz fehlt. Und das - würde ich als Mitglied der EU und auch als Vertreterin eines Landes, das Mitglied in der NATO ist, sagen -, das wollen wir nicht. Wenn wir ab und zu den Eindruck erwecken, dass es so ist, dann muss man darüber sprechen.

Deshalb finde ich zum Beispiel, - und das habe ich auch in Bukarest gesagt, - dass der NATO-Russland-Rat viel häufiger tagen sollte, als er es tut; wenn das nur immer alle sechs Jahre einmal passiert, dann kommt man auch nicht in ein Gespräch. Aber die NATO, wie gesagt, ist ein Bündnis, dem man beitreten kann, wenn man glaubt, dass man dort in einer Gemeinschaft von Ländern ist, die sich gegenseitig schützen wollen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn MANZELLA, SOC

Wir haben ja in der Europäischen Union gerade ausführlich diskutiert, wer sich als Mittelmeerland fühlen darf, und ich habe gesagt, die Stabilität im Mittelmeerraum, inklusive auch der Menschenrechte, ist eine Frage der gesamten Europäischen Union, egal, ob man eine Grenze zum Mittelmeer hat oder nicht. Denn die Probleme, die aus einer Instabilität des Mittelmeerraums resultieren, sind nachher unsere aller Probleme, ob Migrationsbewegungen, Terrorismus oder andere Dinge.

Und deshalb haben wir uns hier auch geeinigt, dass wir während der französischen Präsidentschaft die Mittelmeerunion als eine qualitative Fortsetzung des Barcelona-Prozesses beleben und zum Anliegen aller europäischen Mitgliedstaaten machen wollen.

Ich weiß, dass das ein sehr dickes Brett ist, das wir bohren müssen, wo wir doch schon so sehr viel zu tun haben. Denn es ist ja nicht so, dass alle nichteuropäischen Mittelmeer-Anrainerstaaten nun schon heute ganz alleine super zusammenarbeiten. Auch zwischen ihnen gibt es Differenzen. und trotzdem wäre es ganz falsch, wenn Europa sagte: „Weil es so kompliziert und schwierig ist, nehmen wir uns dieser Aufgabe nicht an!“ Ich denke, die französische Präsidentschaft wird hier auch ein ganz besonderes Signal setzen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn HOVANNISIAN, EPP/CD / PPE/DC

Deutschland hat sich mit seiner Geschichte, insbesondere natürlich des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Die Vernichtung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, der Holocaust, ist nach unserer festen Auffassung eine Singularität.

Dennoch werben wir dafür, dass natürlich in allen Ländern über die Dinge, die in der Vergangenheit geschehen sind, auch eine historische Diskussion geführt wird. Ich kann nur jeden dazu auffordern, hier nicht zu blocken, sondern auch über die Seiten der Geschichte zu sprechen, die große Probleme aufwerfen.

Ich glaube, wer seine Geschichte nicht kennt, hat auch immer wieder Mühe, die Zukunft zu gestalten. Das ist eine allgemeine Überzeugung in Deutschland, und das gilt auch für jedes Land. Allerdings sage ich dann auch wirklich für jedes Land, weil meistens natürlich jeder seine eigene Sicht hat.

Ich habe voriges Jahr vor dem Europäischen Parlament gefragt: „Was ist eigentlich das einigende Band Europas?“ Dieses Band ist sicherlich die Freiheit, aber auch die Toleranz. Toleranz ist die Fähigkeit, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen und zu erleben, dass, wenn ich sie mit den Augen des anderen sehe, ich selber bereichert werde. Und dieser Gedanke muss der Grundgedanke europäischen Zusammenlebens sein.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn KOSACHEV, EDG / GDE

Ich glaube nicht, dass die Wahrnehmung unserer Freunde im Baltikum die ist, dass jeder Mensch russischer Nationalität im Baltikum nicht die gleichen Rechte hat. Und das würde ja auch eine unglaubliche Klageflut vor dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof mit sich bringen.

Insofern glaube ich, es geht hier auch um die Frage der Minderheiten; ich habe darüber heute hier auch gesprochen. Es gibt sicherlich im Rückblick auf den Verfall der Sowjet-Union und die Bildung neuer Staaten auch zum Teil sehr komplizierte Fragen, aber auch hier kann ich immer wieder nur sagen - wir haben das auch in vielfältiger Weise als deutsche Politiker immer wieder versucht -: Es hilft nur der Dialog.

Es hilft nur, miteinander zu reden; übereinander zu reden bringt in den allermeisten Fällen keinen Fortschritt. Es muss Vertrauen wachsen, es müssen bestimmte Dinge überwunden werden, aber im Blick auf die baltischen Staaten muss ich sagen, dass ich davon ausgehe und überzeugt bin, dass die Menschenrechte natürlich ihre Gültigkeit dort haben.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn BIBERAJ, EPP/CD / PPE/DC

Ja, ich denke schon, es ist ja heute schon eine Priorität: Wir haben die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, und wir haben Assozierungsabkommen mit den meisten Staaten. Wir arbeiten im Augenblick daran, dass wir das zum Beispiel auch mit Serbien haben können.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die europäische Perspektive die Grundlage dafür ist, dass auch die friedliche Entwicklung auf dem westlichen Balkan weitergehen kann. In diesem Sinne haben wir da ja auch bereits wichtige Schritte unternommen und werden das auch weiterhin tun. Das gilt von Albanien bis zu all den anderen Ländern, die es dort gibt.

Wir haben im Übrigen durch den Lissabonner Vertrag - wenn er ratifiziert ist - jetzt auch die rechtliche Grundlage, mehr als 27 Staaten in die EU aufzunehmen. Bis jetzt waren wir geblockt, wir hätten nicht einmal Kroatien aufnehmen können, weil die ganze Konstruktion der europäischen Union auf 27 Mitgliedsstaaten beschränkt war. Durch den Lissabonner Vertrag werden wir in der Lage sein, nicht nur die Ratifizierungsabkommen abzuschließen, sondern eben auch praktisch wieder neue Mitglieder aufzunehmen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn ROCHEBLOINE, EPP/CD / PPE/DC

Ich denke, erstens haben wir schon einen guten Fortschritt erbracht, indem wir auf dem letzten Europäischen Rat beschlossen haben, die Weiterentwicklung des Barcelona-Prozesses vorzunehmen.

Barcelona-Prozess: Mittelmeerunion – wir werden den Gipfel in Paris haben, und ich hoffe, dass wir dann dazu kommen, dass in besonderer Weise auch hier die Beziehungen intensiviert werden. Wir haben ja folgende Situation: Wir haben sehr viele materielle Möglichkeiten.

Das Geld, das in der jetzigen finanziellen Vorausschau für die Mittelmeerkooperation vorgesehen ist, wird gar nicht ausgegeben. Aber wir haben sehr viele Projekte, die immer bilateral sind, also zwischen der Europäische Kommission und einem der Mittelmeeranrainerstaaten stattfinden, die nicht zur europäischen Union gehören.

Was wir brauchen, sind auch integrative Projekte, sodass die Mittelmeerstaaten, die nicht zur EU gehören, auch miteinander ihre Verkehrs-Infrastruktur und ihren Ausbildungsaustausch verbessern, und vieles andere mehr.

Wir haben gesagt: Damit nicht der Eindruck entsteht, Europa dominiert alles, weil wir das Geld geben, wollen wir einen Sekretariat bilden (und darauf werden Deutschland und Frankreich auch in besonderer Weise achten), bei dem aus der Ratsperspektive dann auch die Mitgliedsstaaten von der Mittelmeerseite, die nicht zur EU gehören, gleichermaßen beteiligt sind, sodass wir die Projekte auch miteinander diskutieren können, sodass es nicht so aussieht: So, hier kommt eine Kommission, hat Geld und gibt dann anderen etwas, sondern dass wir mehr auf eine Kommunikation auf Augenhöhe kommen, auch auf eine politische Kommunikation, und ich hoffe, das wird uns voranbringen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Frau KEAVENEY, ALDE / ADLE

Ich war gestern in Irland und habe für den Vertrag geworben. Ich habe dort vor dem National Forum on Europe auch mit sehr vielen Gegnern oder Kritikern dieses Vertrages gesprochen, und ich hoffe, dass ich einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte, dass man auch die Sorgen etwas verliert.

Die Frage der WTO-Verhandlungen hat nichts mit dem Lissabonner Vertrag zu tun; die Einstimmigkeit bleibt in allen außen- und sicherheitspolitisch Fragen erhalten. Insofern glaube ich, dass es gut ist, dass in Irland sehr breit über die europäische Union diskutiert wird. Aber ich haben natürlich auch meine Hoffnung deutlich gemacht, dass ich hoffe, dass es dann auch im Juni ein entschlossenes Votum der irischen Bevölkerung für diesen Lissabonner Vertrag geben kann.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn JAKAVONIS, ALDE / ADLE

Die Genehmigungsverfahren für North Stream sind ja im Gange. Wir diskutieren darüber sehr viel. Ich glaube, man muss folgendes sagen: Ich halte dieses Gasprojekt für vernünftig. Es ist aus deutscher Sicht im deutschen Interesse, aber nicht nur das, sondern es ist auch im Interesse vieler anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Wir haben zum Beispiel auch angeboten, dass dieses Projekt auch Polen zugute kommen kann, indem wir von Deutschland, in die Rückrichtung sozusagen wieder, Gas zur Verfügung stellen. Die Anrainerstaaten von South Stream sind inzwischen schon ziemlich weit vorangeschritten, ich will nur beispielhaft Ungarn nennen, Bulgarien, Serbien, Italien und viele andere.

Ich - da ich nun zum nördlichen Teil von Europa gehöre - finde, wir sollten in Europa schon darauf achten, dass wir insgesamt unsere Versorgungssicherheit hinbekommen, dass wir eine Energiesolidarität unter den europäischen Ländern haben. Ich glaube auch, man sollte die Umweltfragen sehr ernst nehmen, und das wird ja bei der europäischen Rechtsetzung, der Umweltverträglichkeitsprüfung, auch so sein.

Was wir jedoch unterscheiden müssen, ist Folgendes: Möchte ich ein Projekt verhindern, weil ich es strategisch für falsch halte, und versuche ich deshalb, dieses Projekt über das Umweltrecht sehr schwierig zu machen? Oder finde ich es strategisch richtig und sorge mich dann natürlich in der gewohnten europäischen Genehmigungspraxis um alle Umweltanliegen?

Wir wissen aus Deutschland, dass es trotz allem Rechtsstaat dazwischen schon einen Unterschied geben kann. Ich bin der Meinung, dass wir uns gemeinsam einigen sollten. Dieses Projekt North Stream ist strategisch richtig. Und dann müssen wir alle Umweltfragen vernünftig klären, und ich bin überzeugt, das wird auch gelingen.

Ich war jetzt in Norwegen und habe mir das Pipeline-System durch die Nordsee, von Norwegen in Richtung Westeuropa, Großbritannien angeschaut. Das ist ein weitverzweigtes Pipeline-System, und was die Nordsee schafft, kann die Ostsee umweltmäßig auch schaffen.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn SLUTSKY, SOC

Wir wissen um die komplizierte Situation im Zusammenhang mit dem Kosovo. Sie haben gesagt, sie ist einzigartig, und das glauben wir auch. Sie ist ein Fall sui generis, und das drückt auch die UN-Resolution 12/44 aus, und auf dieses Basis musste man nach einer bestimmten Zeit eine Lösung finden.

Es ist sehr bedauerlich, dass diese Lösung bislang nicht im Einvernehmen mit Serbien gefunden werden konnte, aber wir konnten auch den Status Quo nicht einfach so aufrecht erhalten, das war nicht der Auftrag von 12/44. Wir glauben, wie gesagt, dass der Fall Kossovo ein Fall sui generis ist. Deshalb haben wir uns zu dieser Anerkennung entschlossen.

Wir glauben nicht, dass man aus diesem Fall Parallelen zu anderen regionalen Konflikten ziehen kann. Das ist etwas, was ich auch immer im Gespräch mit dem russischen Präsidenten deutlich gemacht habe: Hier haben wie eine Meinungsverschiedenheit, aber Deutschland ist davon überzeugt, dass dies der richtige Weg ist.

Dr. Angela MERKEL, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Antwort auf die Frage von Herrn OMTZIGT, EPP/CD / PPE/DC

Wir müssen die Anliegen Weißrusslands natürlich immer wieder zur Sprache bringen. Wenn ich erst gesagt habe, fast alle europäischen Länder seien heute Mitglied des Europarates, dann ist Weißrussland ein Land, das fehlt. Wir können, glaube ich, auf den unterschiedlichen politischen Ebenen, zum Beispiel auch über unsere Parteien, die Oppositionskräfte in Weißrussland unterstützen. Wir habe das, wenn ich für meine Partei zum Beispiel sprechen darf, genauso wie viele andere Parteien, auch immer wieder getan.

Wir wissen noch aus der Geschichte des Kalten Krieges, wie wichtig es ist, dass wir uns für einzelne menschliche Schicksale interessieren, dass darüber berichtet wird, dass sie zur Sprache gebracht werden. Und das müssen wir mit Weißrussland jetzt auch machen, damit niemand den Eindruck hat, er ist vergessen, um ihn kümmert sich niemand. Nichts ist schlimmer, als wenn man irgendwo im Gefängnis sitzt und kein Mensch auf der Welt weiß davon und sagt es weiter.

Deshalb müssen wir an dieser Stelle alle Möglichkeiten suchen, sich um solche Verletzungen von Menschenrechten in Weißrussland zu kümmern, sie zur Sprache zu bringen, und wir wissen aus vielen anderen Beispielen, dass das dann eines Tages doch zu einem Erfolg geführt hat.