AL09CR30       AS (2009) CR 30

Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2009

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(4. Teil)

BERICHT

30. SITZUNG

Dienstag, 29. September 2009, 15.00 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH

Rainder STEENBLOCK, Deutschland, SOC

(Dok. 12002)

Vielen Dank Herr Präsident,

Vielen Dank auch an meine beiden russischen Vorredner!

Es ist richtig, dass wir dieses Problem natürlich nicht auf der Ebene der EU lösen können; es ist ein globales Problem. Alle wissen, dass Klimaschutz nicht an Grenzen halt macht. Deshalb brauchen wir internationalen Kooperationen wie jene zwischen Deutschland und Russland, auf die Herr Panteleev auch zu Recht hingewiesen hat: die Gründung der Agentur für erneuerbare Energien und Energieeffizienz.

Das sind Beispiele dafür, wie man die zentralen Probleme des Klimawandels ganz praktisch lösen kann. Aber das wird nicht reichen. Wir sind in einer schrecklichen Situation.

Wenn man mit der Finanzkrise vergleicht und bedenkt, was wir innerhalb eines Jahres international geschafft haben und was für Anstrengungen unternommen wurden, wie viel internationale Kooperation und welche Summen möglich und nötig waren, um die Krise des Weltfinanzsystems einigermaßen zu lösen, und wenn man dem die Maßnahmen, die Entschiedenheit und den Mitteleinsatz gegenüberstellt, der benutzt und benötigt wird, um die Klimakatastrophe zu verhindern, dann sind wir in einer ausgesprochen schrecklichen Situation.

Wir wissen, was zu tun ist, ergreifen aber nicht die Mittel, die nötig sind.

Deshalb finde ich leider, zumindest in der deutschen Übersetzung, den Titel des Films, der hier ja auch zu Recht gelobt worden ist, völlig falsch. Wir sind nicht im Zeitalter der Dummen: Wir wissen, was zu tun ist, wir wissen, dass wir die erneuerbaren Energien und Energie- und Ressourceneffizienz brauchen – das gilt für das Wasser ebenso wie für alle Ressourcen dieses Planeten.

Wir wissen, wie wir Klimawandel verhindern oder zumindest in seinen Auswirkungen reduzieren können. Unser Problem ist doch, dass wir trotz unseres Wissens nicht in der Lage sind, international die notwendigen entscheidenden Handlungen vorzunehmen. Wir sind nicht im Zeitalter der Dummen, sondern eher der Ignoranz. Vielleicht werden uns die nachfolgenden Generationen sogar sagen: Ihr wart im Zeitalter der Egoisten, aber ihr wusstet, was ihr tatet. Das ist die Tragik der Situation: Wir wissen, was zu tun ist, aber wir kommen nicht mit der nötigen Geschwindigkeit zu den Entscheidungen.

Ich glaube, es ist wichtig, zu analysieren woran das liegt: Es liegt an Interessensgegensätzen in dieser Gesellschaft. Viele von uns haben mit großer Begeisterung die Wahl von Obama zum amerikanischen Präsidenten aufgenommen, unter dem Amerika sich stärker in den Kampf gegen Klimawandel engagieren soll.

Wenn wir jetzt sehen, wie in Amerika Lobbygruppen systematisch diesen Aufbau einer ökologischen Wirtschaft zu verhindern versuchen, dann wissen wir, dass es in unseren Gesellschaften Gruppen gibt, die kein Interesse daran haben, diesen Klimawandel zu bekämpfen. Und wir als Politiker sind in unseren Ländern dafür verantwortlich, dass Steuerungssysteme entwickelt werden, die konsequent den Weg gegen den Klimawandel beschreiten.

Wir sind für diese staatlichen Steuerungssysteme verantwortlich. Was der Staat tun kann, das ist unsere Aufgabe. Wir sind dafür verantwortlich, dass ökologisch schädliche Subventionen abgebaut werden. Es müssen Energiepreise erhoben werden, die auch ökologische Wahrheit sprechen. Natürlich muss man Armut bekämpfen und armen Menschen den Zugang zu diesen Ressourcen geben; das ist aber etwas anderes als beispielsweise eine generelle Subventionierung von Energiepreisen.

Wir wissen, wie man heute Autos bauen muss, um eine ökologisch verträgliche Verkehrswirtschaft aufzubauen, aber wir haben Interessengruppen, die das verhindern. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Politiker in unseren Ländern, diese Interessen zu bekämpfen und staatliche Steuerungssysteme für eine wirklich klimaverträgliche Wirtschaft zu entwickeln. Hier ist mehr Konsequenz gefragt, auch von uns als Politikern. Wir brauchen nicht nur Deklarationen, sondern müssen vor Ort handeln.

Vielen Dank.

Christine MUTTONEN, SOC

(Dok. 11989)

Danke schön, Herr Präsident,

werte Kolleginnen und Kollegen!

Der Bereich der Bildung hat in den letzten Jahren in unserer Wertigkeit enorm zugenommen. Im Bericht, den wir heute diskutieren, steht die kulturelle Bildung im Zentrum.

Viele Experten und Expertinnen verstehen kulturelle Bildung längst als ein Fundament der Allgemeinbildung und nicht als Luxusangebot, das hinzukommen kann, wenn andere Bildungsziele bereits erreicht sind. Gerade deshalb ist es wichtig, das Bewusstsein für die Notwendigkeit von kultureller Bildung in der Öffentlichkeit zu schärfen und die positiven Auswirkungen für die persönliche und in Folge für die gesellschaftliche Entwicklung deutlich zu machen.

Daher ist der Bericht Cultural Education: the promotion of cultural knowledge, creativity and intercultural understanding through education wichtig und notwendig.

Ich möchte mich an dieser Stelle für die zahlreichen anregenden Diskussionen und die Unterstützung bedanken, die ich von den Mitgliedern des Kulturausschusses und dem Sekretariat bekommen habe.

Warum also ist kulturelle Bildung so wichtig? Die Veränderungen der letzten Jahre haben tiefgreifende Folgen für unser Leben bewirkt. Zunehmende Globalisierung und immer komplexere Beziehungen über alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen hinweg sind Teil unseres Alltags geworden. Wissen und Kreativität werden in Zukunft entscheidend sein für den Erfolg von Ländern und Regionen.

Die Qualifikationen und Kompetenzen der Bürger und Bürgerinnen sind somit die Schlüssel zur Bewältigung anstehender Probleme und Fragen unserer Gesellschaft.

Zu diesen Qualifikationen gehören unter anderem die Fähigkeit zur differenzierten Beobachtung und Wahrnehmung, Fantasie und Vorstellungskraft mit der daraus sich entwickelnden Kreativität, emotionale und soziale Intelligenz, aber auch individuelle Ausdrucksformen und Sprachkompetenz, Kommunikations- und Teamfähigkeit, das Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen, Kritikfähigkeit und Reflexionsvermögen.

Wie also können wir unsere Jugend fit für die Zukunft machen? Wie muss ein Bildungssystem konstruiert sein, damit dies gelingt? Was sollten die Inhalte sein?

Bildungsinstitutionen hinken sehr oft veränderten gesellschaftlichen Bedürfnissen hinterher. Es ist aber die Aufgabe von Bildung, den gesellschaftlichen Herausforderungen Rechnung zu tragen, sie zu erkennen und Kinder und Jugendliche auf ihr berufliches und soziales Leben vorzubereiten.

Bildung muss das Ziel haben, die Entwicklung der Persönlichkeit zu fördern und alle Begabungen und Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. Und das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist ohne sinnliche Erfahrung, wie sie kulturelle Bildung bietet, nicht möglich. Studien im Bereich der Neurowissenschaft und Hirnforschung beweisen es: Wir brauchen nachweislich sinnliche Erfahrungen für unsere Entwicklung.

Wir wissen alle, dass sich Lernen im ganzheitlichen Sinn nicht erzwingen und schon gar nicht verordnen lässt. Hier hilft uns die Kunst, denn Kunst reflektiert die Welt auf einer sinnlichen Ebene. Lernen anhand kunstgeleiteter Methoden ermöglicht daher das Eintauchen in ganz neue Erfahrungen jenseits der kognitiven Fähigkeiten und zeichnet sich durch besondere Anschaulichkeit aus.

Der spielerische, neugierige, forschende Umgang mittels Kunst und Kultur ermutigt Kinder und Jugendliche, neue Welten zu entdecken. Durch das Entdecken, Erforschen und Begreifen von solch neuen Welten, verstärkt und verschränkt durch das Selbstbewusstsein und die Selbsterfahrung, entsteht neues Wissen.

Es entwickeln sich neue Erkenntnisse, Klarsicht und Verständnis, wie z.B. ein positives Verständnis von Vielfalt. Das ist ein guter Boden, um Kreativität und Innovation entstehen zu lassen, und es ist eine Ermutigung, Grenzen zu überwinden – vor allem die Grenzen in unseren Köpfen.

Unsere Bildungsinstitutionen müssen Zeit, Raum und Unterstützung geben, um experimentelle Situationen zulassen zu können. Schule muss so etwas wie ein Biotop sein, in dem etwas wachsen kann – in großer Vielfalt und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.

Ganz nebenbei wird also gelernt, dass es nicht eine Kultur gibt, nicht eine Herangehensweise an eine Fragestellung, sondern dass wir in einer Zeit der Vielfalt leben, der Kulturen, mit unterschiedlichen sprachlichen und auch nichtsprachlichen Ausdrucksformen.

Ich spreche also – und das möchte ich hier betonen – von Kulturen in all ihren jetzigen oder vielleicht auch zukünftigen Ausdrucksformen.

Jede Gesellschaft ist von unterschiedlichen Differenzen und Bruchlinien durchzogen, sei es zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, zwischen sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen. Diese teilweise selbst gewählte Zugehörigkeit erzeugt Identität, wobei die Grenzen immer fließend, in Bewegung und nie starr sind.

Der Dialog zwischen diesen Kulturen, die Auseinandersetzung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, ist die Basis für ein gutes und friedliches Zusammenleben für alle.

Wir wissen aber, dass anstehende und große Fragen der Zukunft nur bewältigt werden können, wenn auch quer- und gegen den Strich gedacht wird; wenn kreatives Denken in Fluss geraten kann, gepaart mit einem wachen sozialen Bewusstsein, einer fest verankerten Überzeugung für Demokratie, der Fähigkeit zur Solidarität und dem Verantwortungsbewusstsein für ein gemeinsames Europa und der Welt insgesamt.

Zahlreiche Künstler und Künstlerinnen haben diese Zusammenhänge längst erkannt, und das ist Teil ihres Selbstverständnisses, ja Teil ihres Lebens. Daher ist ihnen Kunst und kulturelle Bildung besonders wichtig. Ganz besonders wichtig ist es für Kurt Masur, auf den wir noch warten, und der seine Proben in Paris unterbrochen hat, um zu uns zu kommen und zu sprechen.

Ich freue mich sehr auf die Debatte und natürlich auf den Vortrag von Kurt Masur.

Danke schön.

Hakki KESKIN, Deutschland, UEL/GUE

(Dok. 11989)

Danke, Herr Präsident,

liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich danke unserer Kollegin Christine Muttonen für ihre federführende Arbeit zu dem vorliegenden Entwurf für eine Empfehlung zur interkulturellen Bildung.

Lassen Sie mich dabei zunächst festhalten, dass die Globalisierungsprozesse nicht nur einen beschleunigten ökonomischen und sozialen Wandel mit sich bringen, sondern auch zu einem intensiveren interkulturellen Austausch beitragen. Die Gesellschaften in den Mitgliedstaaten und darüber hinaus sind infolge der zurückliegenden globalen Migrationsprozesse insbesondere in kultureller Hinsicht vielfältiger geworden.

Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen kann unterschiedliche Reaktionen auslösen. Neben kreativen Impulsen für Kultur und Kunst kann das Verständnis füreinander gestärkt werden, ebenso wie bisweilen möglicherweise auch Konflikte entstehen können. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der interkulturellen Bildung in naher Zukunft stark zunehmen.

Die primäre Aufgabe der interkulturellen Bildung sollte darin bestehen, die sozialen Kompetenzen auszubilden, die das einzelne Individuum benötigt, um sich in einer kulturell vielfältigeren Gesellschaft zurecht zu finden. Die kulturellen Unterschiede sollten somit nicht als Bedrohung, sondern als Normalität und Bereicherung empfunden werden.

Ich stimme daher zu, wenn in dem vorliegenden Entwurf der Stellenwert von interkultureller Bildung in den Mitgliedstaaten gestärkt werden soll. Dies betrifft den besseren interkulturellen Erfahrungsaustausch, der in den Bereichen Bildung und Erziehung stärker berücksichtigt werden sollte.

Und selbstverständlich unterstütze ich die Forderung nach Anerkennung des Rechts auf kulturelle Bildung mit entsprechenden Unterstützungsprogrammen für die Mitgliedstaaten, mit denen die Bildungs- und Teilhabechancen von benachteiligten Personen und kulturellen Minderheiten verbessert werden sollen.

Ich vertrete die Auffassung, dass interkulturelle Bildung sämtliche kulturellen Ausdrucksformen im Lebensalltag der Menschen konkret vermitteln und erfahrbar machen sollte! Dies betrifft beispielsweise die Vielfalt der Sprachen, den Dialog der Religionen, die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe samt ihrer kulturspezifischen und religiösen Grundlagen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Ansprache von Kurt MASUR, Dirigent

Herr Präsident!

Es ist für mich eine unerwartete und große Ehre, hier sein zu dürfen und über das zu sprechen, was mich natürlich ein Leben lang beschäftigt und bewegt hat. Ich bin glücklich zu hören, dass Sie als Politiker sich mit dieser Problematik – wie ich es nennen möchte - beschäftigen.

Ich glaube, wir haben in zurückliegenden Jahrzehnten in Europa langsam verlernt, so zu denken, dass wir erst einmal das Leben mit dem Gefühl aufbauen, wir haben Frieden, wir verstehen einander, wir haben Harmonie zwischen uns. Und ich glaube, wenn wir heute zurückdenken an eine Zeit, die man heute zurückblickend vielleicht als „bourgeois“, als etwas altmodisch bezeichnen möchte, so kommen wir doch darauf, dass wir einiges verloren haben.

Das es Ihnen als dem Präsidenten dieser bedeutenden Einrichtung so am Herzen liegt, wie Sie es gerade dokumentiert haben, erfüllt mich mit tiefer Freude und Genugtuung. Ich darf Ihnen sagen, dass ich nicht ein Vertreter der klassischen Musik bin.

Sie sollen nicht erschrecken, dass ich darüber reden will, aber ich möchte darüber reden, was Musik wirklich ist und wie Musik für die Menschen aller Länder ist. Ein Elixier, das sie vorantreibt, das sie begeistert, etwas, wo sie sagen, ich habe Musik verstehen gelernt. Das kann der Samba in Brasilien sein, das kann in Argentinien sein, wenn die Menschen bei einem Tango in Tränen ausbrechen können, weil die love story so tragisch ist.

Ich war sehr weit weg, in Taschkent, in Baku, in Mittelasien und natürlich in Südamerika – ich habe zum Beispiel meine Frau vor 34 Jahren in Rio de Janeiro kennengelernt –, und ich habe überall Dinge kennengelernt, die musikalisch eine ganz andere Wertigkeit haben. Dort steht es nicht so sehr im Zentrum, Bach, Mozart und Beethoven zu hören, sondern hier gibt es eine eigene starke Volksmusik, die den Menschen eigentlich alle Empfindungen gibt, die sie im Leben wieder finden möchten.

Es ist für mich immer wieder das Entscheidende zu wissen, was die Menschen täglich hören, was sie am meisten lieben. Das Schlimmste ist, wenn sie gar nichts lieben gelernt haben. Ich glaube, dass wir alle eine große Verantwortung tragen, vielleicht eine größere, als wir glauben. Wenn sie einem jungen Menschen im musikalischen Bereich auch nur ein kleines Erlebnis verschaffen, vergisst er das nie, und je jünger er ist, umso besser. Und wir sollten nicht glauben, dass zum Beispiel ein fünfjähriges Kind nicht zumindest den großen Eindruck einer Musik verspürt, wenn es damit konfrontiert wird.

Ich erinnere mich, als mir meine Mutter später, als ich anfing Klavier zu spielen, sagte: „Weißt du, Junge, ich habe immer gewollt, dass du musikalisch wirst. Und solange du in meinem Körper warst, habe ich das schon gewünscht und es ist Wirklichkeit geworden.“ Sie hat an das Wunder geglaubt, dass ihre Gedanken sich bereits auf das ungeborene Baby übertragen, und ich glaube, sie hatte sogar Recht.

Wir sollten eins nicht vergessen: Die Musik gibt uns allen die Möglichkeit, Gleiches zu empfinden. Ich habe einmal in einem meiner ersten Interviews eine wunderbar naive Frage beantwortet: „Was glauben Sie, kann Musik tun?“ Da habe ich damals gesagt: „Ja also sagen wir mal, wenn wir einen Konzertsaal hätten, in dem wir die ganze Welt vereinen könnten, ganz gleich welche Rasse, ganz gleich aus welchem Teil der Welt, und wir spielen für sie irgendein Werk, z.B. die Neunte von Beethoven oder ein Werk, das alle Menschen in ähnlicher Weise bewegen kann, dann hätten wir für zwei Stunden die Welt in Frieden vereint, weil die Menschen das Gleiche empfunden hätten. Sie hätten das Gefühl gehabt, neben mir sitzt jemand, der ähnliche Empfindungen hat, neben mir sitzt jemand, der auch so mitgerissen ist.“ Wir können das nicht mit dem Gefühl ersetzen, unsere Mannschaft hat im Fußball jetzt ein Tor geschossen, denn das ist eine völlig andere Emotion. Das kann erregend sein, aber es kann nicht bewegend sein. Wir müssen sehen, dass wir diese Tiefe unserer Gedanken, unserer Empfindungen möglichst wieder hinüber retten über alles das, was uns täglich bewegt.


Was bewegt uns täglich? Die junge Generation wird allen technischen Anforderungen gegenübergestellt. Sie haben in diesem Bereich viel mehr zu lernen, als ich zu meiner Zeit, als ich jung war. Aber ich habe jeden Abend mit meinen zwei Schwester so lange Volkslieder gesungen, bis wir müde wurden und einschliefen. Und mein Repertoire in diesem Bereich ist unerschöpflich. Das Unglaubliche geschah: ich habe ohne Musik überhaupt nicht mehr leben können.

Die ganz großen Persönlichkeiten: Wir wissen zum Beispiel, dass Einstein wahnsinnig gern Violine gespielt hat. Sicher, er ist kein großer Star auf der Violine geworden, aber ihn hat die Musik allein schon beflügelt, um Gedanken zu fassen, die weit über die Grenzen des Normalen hinausgehen. Und dieselben Erscheinungsformen könnten wir überall finden, wo wir beweisen wollen oder können, dass Musik viel mehr kann als nur unterhalten, dass Musik viel mehr in einem Menschen bewirkt, als er sich selbst zuschreibt.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen andere Erfahrungen gemacht hat, aber ich glaube, dass überall jemand sitzt, der sagen kann: „Die Mutter hat mich das gelehrt.“ Alle hatten wir eine Mutter, das wissen wir; welchen Vater sie hatten, das wissen nicht alle, aber welche Mutter wir hatten, dass wissen wir alle. Das Entscheidende für mich ist: Womit beginnt für eine Mutter die Musik? Das ist mit dem ersten Schrei des geborenen Babys. Auch wenn es Geschrei ist, dann ist es für die Mutter Musik.

Wir wissen, dass das die Sprache eines Babys ist, seine einzige Möglichkeit, sich irgendwie auszudrücken. Wir haben die Geduld und besitzen die Kultur, unserem Baby unsere Sprache beizubringen, und wie es sich kultiviert verhalten soll, wie es kultivierter als andere ist oder wie es sich dadurch, dass es sich verständlich machen kann, im Ernstfall im Leben über Wasser halten kann.

Musik ist für mich unentbehrlich geworden, wenn ich daran denke, wie man junge Menschen erziehen kann. Denken wir zum Beispiel an Venezuela: Dort hat man begonnen, die jungen Menschen von der Straße wegzuholen, indem man ihnen anbietet, ein Instrument zu lernen, Musik zu machen, Musik zu empfinden. Und jetzt haben sie dort eines der besten Orchester der Welt, und in dem jungen Dirigenten Dudamel, der überall Furore macht, haben sie einen der besten Musiker der Welt.

Das war fast unvorstellbar, als ich in dieser Stadt war. Man hat uns bei unserem Gastspiel in Venezuela damals geraten, nicht außerhalb der Mauern zu gehen, weil jeder, der besser angezogen war, beraubt und manchmal sogar ermordet wurde.

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Kultiviertheit des Umgangs miteinander dort beginnt, wo wir nicht nur Karriere machen wollen, wo wir nicht nur sehr viel Geld verdienen wollen, sondern wo wir sagen können: Was macht uns glücklich? Was beginnt uns glücklich zu machen, ohne dass wir von einem Preis – etwa dem Eintrittpreis eines Konzertes - abhängig sind? Das ist manchmal einfach nur einfach das Singen.

Und ich sage Ihnen, wenn die Mütter überall in der Welt wieder lernen, dass bereits das Baby glücklich wird wenn es die Mutter singen hört, dann ist das die Wahrheit, das ist nicht Utopie. Ich wünsche uns, dass wir gemeinsam wieder lernen, das Leben so zu führen, dass wir - Sie als Politiker, ich als Musiker – allen Menschen mehr nahe bringen, was wir für ein glückliches Leben brauchen; ein Leben, wo wir nicht nur an das Geld, den Luxus und das bequeme Leben denken, sondern daran, was uns wirklich Befriedigung bringt.

Ich wünsche mir, dass Ihr Einfluss und Ihre Absichten, die ich bewundere und verehre, einen so großen Erfolg haben, dass die Welt dadurch besser wird.

      

Das Wenige, das wir als Musiker dazu beitragen können, werde ich mit aller Kraft weiterhin versuchen.

Ich bedanke mich vielmals.

Christine MUTTONEN, SOC

(Dok. 11989)

Vielen Dank, Herr Präsident,

werte Kolleginnen und Kollegen!

Vielen Dank für Ihre Beiträge zur Debatte. Besonders möchten ich mich natürlich bei Ihnen bedanken, Herr Masur. Sie haben uns mit Bildern aus Ihrer Lebenserfahrung sehr bewegt.

Ich glaube, man kann daraus herauslesen, dass Kultur und damit kulturelle Bildung uns alle bewegt. Das gibt uns die Hoffnung und den Mut, in diesem Sinne weiterzuarbeiten.

Dies ist meines Erachtens auch deshalb ein ganz wichtiger Bericht, weil hier zwei Ebenen zusammen gebracht werden: die der Kultur und Kunst und die der Politik. Sie haben von Harmonie, Frieden und Glück gesprochen. Dies sind Ziele, die wir erreichen wollen und können, wenn wir die Möglichkeit zu einer persönlichen Entwicklung haben. Diese persönliche Entwicklung sollte in den Schulen vermittelt werden.

Sie haben auch von der Tiefe der Empfindungen gesprochen. Das sind Ziele, die von enormer Bedeutung sind, und die letztendlich auch der Gesellschaft zugute kommen, denn Solidarität ist ein sehr wichtiger Punkt. Es geht wie schon erwähnt auch darum, dass wir die großen Fragen der Zukunft lösen.

Wir müssen aufpassen, dass sich Bildung nicht auf einen reinen Kosten-/Nutzenfaktor reduziert. In letzter Zeit ist sehr viel über Bildung debattiert worden; nach den Pisa-Ergebnissen gibt es Länder, die besser, und solche, die weniger gut abschneiden.

Es ist natürlich wichtig zu wissen, wo ein Land in dieser Beziehung steht, aber es gibt mehr als das. Daher müssen wir in diesem Bereich der kulturellen Bildung weiter arbeiten. Wir werden achtgeben, dass die kulturelle Bildung in ihrer ganzheitlichen Form und ihrem interkulturellen Ansatz letztendlich eine der tragenden Säulen des Bildungssystems werden soll.

Vielleicht können dieser Bericht und die Debatte heute ein Anstoß dazu sein, dass wir auf internationaler und auch nationaler Ebene in diesem Sinne weiterarbeiten, und dass wir die Verknüpfung von Kunst und Kultur, von Bildung und Politik zustande bringen.

Vielen Dank.

Anne BRASSEUR, Luxemburg, ALDE / ADLE, Vorsitzende des Kulturausschusses

(Antwort an Kurt Masur)

Danke, Herr Präsident!

Maestro, ich möchte mich im Namen des Kulturausschusses dieser Versammlung recht herzlich bei Ihnen persönlich bedanken. Sie haben Ihre Botschaft durch die Musik in die Welt gebracht, und Sie haben jetzt mit Worten Ihre Botschaft zu uns gebracht. Es ist jetzt an uns Politikern, das umzusetzen.

Ich glaube, dass der Bericht von Frau Muttonen, die ich recht herzlich dazu beglückwünschen möchte, uns die Gelegenheit und den Anstoß gibt, dies zuhause auch umzusetzen. Denn besonders in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit haben wir vielleicht zu oft die Tendenz, sehr rational zu denken und zu glauben, all das andere sei überflüssig.

Das ist in meinen Augen ein gefährlicher Ansatz. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese kulturelle Dimension heute hier hereinbringen. Ich möchte mich nochmals sehr herzlich bei Ihnen bedanken, Maestro. Ihre Worte waren Musik in unseren Ohren. Recht herzlichen Dank.

Kurt MASUR, Dirigent

Entschuldigen Sie, Herr Vorsitzender!

Ich wollte nur ganz kurz ergänzen: Ein Baby zu füttern ist notwendig, damit es lebt. Aber wenn die Mutter dabei singt, wird das Baby auch glücklich. Und das wünsche ich uns allen.