AL12CR17

AS (2012) CR 17

 

Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2012

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(2. Teil)

BERICHT

17. SITZUNG

Donnerstag, 26. April 2012, 15.30 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH

Marieluise BECK, Deutschland, ALDE / ADLE

(Dok. 12899)

Schönen Dank, Herr Präsident,

liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte mich im Namen des Rechtsausschusses für diesen wichtigen Bericht bedanken. Ich möchte auch den russischen Kollegen und Behörden danken, dass sie eine Reise vor Ort ermöglichten, und dass man sich die Lage der Menschen dort anschauen konnte.

Herr Kollege Dendias hat gute Nachrichten mitgebracht - der äußere Ausbau geht voran. Von Seiten des Rechtsausschusses möchten wir deswegen nur noch einmal betonen, dass zu der Frage der sozialen Sicherheit auch die rechtliche Sicherheit gehört. Die Frage, ob Flüchtlinge zurückkehren, hängt natürlich auch davon ab, ob sie sich nach ihrer Rückkehr sicher fühlen können: ob sie vor Korruption und möglicher Gewalt geschützt sind und sicher sein können, dass sie auf staatliche Institutionen treffen, die Straftaten und Gewalt verfolgen.

An diesen Themen haben der Europarat und unser Menschenrechtsbeauftragter, Herr Hammarberg, immer wieder gearbeitet. Unser Kollege Dick Marty hat vor 2 Jahren einen Bericht vorgelegt, in dem er sich sehr besorgt darüber zeigte, dass es in Fragen der Rechtsstaatlichkeit in dieser Region nach wie vor viele Defizite gebe und immer noch ein Klima der Straflosigkeit herrsche.

Der Menschenrechtsbeauftragte Hammarberg hat vor einem Jahr eine Reise unternommen, um sich ein Bild davon zu machen, ob die von der Russischen Föderation aufgebauten Sonderermittlungsstrukturen effektiv sind und dabei helfen, die große Zahl von Entscheidungen des Europäischen Menschengerichtshofes umzusetzen. Er ist in großer Sorge zurückgekommen: Die Fortschritte auf diesem Gebiet sind doch sehr langsam.

Flüchtlinge sind in keinem Land gerne gesehen. Selbst die Flüchtlinge der eigenen Nation haben es oft schwer, wenn sie zurückkehren wollen; sie brauchen Anlaufstellen. Deswegen ist das Netz von Nichtregierungsorganisationen und -initiativen wichtig, an das sie sich wenden können, wenn sie in Not sind.

Es muss uns sehr beunruhigen, dass Menschenrechtsaktivisten im Nordkaukasus nach wie vor Gefahren ausgesetzt sind, und dass Straftaten und Morde an Menschenrechtsaktivisten bis zum heutigen Tag leider nicht aufgeklärt werden konnten. Stellvertretend dafür steht Natalia Estemirova, deren Namen wir alle kennen.

Drittens gibt es seitens der tschetschenische Behörden immer wieder die Aufforderung zur Rückkehr von Flüchtlingen und Druck, wenn diese sich der Aufforderung verweigern. Ein dramatischer Fall ist der Mord an Umar Israilov in Wien, der sich einer solchen Aufforderung widersetzt hat. Auch hier sind bis zum heutigen Tag die Hintergründe dieses Mordes leider nicht aufgeklärt worden. Wir möchten noch einmal darauf hinweisen, dass Rückkehr freiwillig sein muss.

Das sind die zusätzlichen Aspekte des Rechtsausschusses.

Schönen Dank.

Stefan SCHENNACH, Österreich, SOC

(Dok. 12882)

Danke, Herr Vorsitzender!

Auch im Namen meiner Fraktion möchte ich mich bei dem Berichterstatter sehr herzlich für diesen Bericht bedanken, der ein Schlaglicht auf das Thema der Binnenvertriebenen wirft. Der klare, unaufgeregte Stil, in dem dieser Bericht gehalten ist, erhöht noch zusätzlich seinen Wert.

Die Geschichte des Zarenreiches und der früheren Sowjetunion wurde immer wieder von Zwangsumsiedlungen geprägt. Auch bei Binnenvertriebenen steht Zwang dahinter, wenn diese auch in der Regel medial nicht dieselbe Aufmerksamkeit bekommen wie Menschen, die über Grenzen hinweg flüchten.

Wie wir das aus den Staaten des Westbalkans nach dem Jugoslawienkrieg wie auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kennen, kommt es, wenn man vertrieben wird, nicht nur zu einem Verlust von Bürger- und Zivilrechten und Eigentum, sondern auch dem Verlust von Heim, Bett und Herz, d.h. des gewohnten Umfeldes und der eigenen persönlichen Sicherheit. Vertreibung hat zur Folge, dass man von Behörden und Hilfen abhängig wird, die eigene Zukunft nicht mehr selbst gestalten kann, und durch Willkür extrem gefährdet ist.

Ich habe in Georgien abchasische und ossetische Lager gesehen – eine Katastrophe –, aber das gibt es umgekehrt auch in der Russischen Föderation. Manchmal heißt es, manche Vertreibungen seien „nachhaltig“. Hier gilt es, die Wohnungssituation, die soziale und eigenständige Situation real anzupacken.

Auf der anderen Seite braucht es dort, wo Vertriebene die Möglichkeit zur Rückkehr haben, ein Übermaß an Garantie von sozialer und rechtlicher Sicherheit. Eine solche Rückkehr muss begleitet werden. Deshalb ist es, wie Frau Beck gesagt hat, besonders wichtig, dass zu diesem Schutz auch die NGOs gehören.

Entschädigungen, wie sie in diesem Bericht angesprochen werden, sind besonders wichtig, obwohl wir alle wissen, dass bei einer Vertreibung eine Entschädigung nie wirklich ausreicht, denn die emotionale Komponente ist nicht mit Geld entschädigbar. Dennoch ist es sehr wichtig, dass dieser Anspruch über die Hilfe hinaus vorhanden ist.

In meinem Land, Österreich, ist es zu wirklich sehr bedauerlichen Umtrieben seitens repressiver Elemente, ja, sogar Mord gekommen. Dessen sind wir uns sehr wohl bewusst.

Auf solche Leute, sowohl aus Tschetschenien als auch aus Kasachstan, fokussieren wir uns besonders. Auch kam es bereits zu einer ersten Verurteilung. Aber es ist eine Tatsache, dass Flüchtlinge selbst in unserem Land einer solchen Repression ausgesetzt sind.

Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich für diesen Bericht.

Tiny Kox, Sitzungsvorsitzender

(Dok. 12882)

Danke, Herr Schennach.

Amendments:

Marieluise BECK, Deutschland, ALDE / ADLE

(Dok. 12882, Amendment 1)

Wir möchten darlegen, dass zu der sozialen Frage auch Gerechtigkeit gehört und dass deswegen die Straflosigkeit ein Hindernis für die Sicherheit von Flüchtlingen ist. Wir bitten noch einmal um die Umsetzung der zahlreichen Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs.

Marieluise BECK, Deutschland, ALDE / ADLE

(Dok. 12882, Amendment 2)

Dieser zweite Änderungsantrag geht noch einmal auf die Bitte und den Wunsch des Europarates ein, dass Straftaten vor allen Dingen gegen Menschenrechtsaktivisten und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen ernsthaft verfolgt werden. Sie sind ein unverzichtbarer Teil der Hilfe und des Schutzes von Flüchtlingen und deswegen ist es besonders wichtig, sie zu schützen.

Marieluise BECK, Deutschland, ALDE / ADLE

(Dok. 12882, Amendment 3)

In diesem Antrag geht es um Flüchtlinge, die innerhalb der Russischen Föderation sich nicht am Heimatort befinden oder die im Ausland leben, und bei denen es immer wieder Druck gegeben hat, dass sie zurückkehren mögen. Falls sie sich diesem Druck widersetzt haben, ist es zu Bedrohungen gekommen. Wir drücken auch unsere Sorge wegen des Mordes an Umar Israilov in Wien aus.

Tiny Kox, Sitzungsvorsitzender

(Dok. 12882)

Danke sehr, Frau Beck.

Andreas GROSS, Schweiz, SOC

(Debatte zum Zeitgeschehen: Die Zukunft des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und die Brighton-Erklärung)

Danke Herr Präsident,

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich gehöre auch wie Herr Loncle zu denjenigen, die Schlimmeres befürchtet haben.

Wenn wir den Konservativen in England und anderen Nationalkonservativen zugehört haben, wie leichtfertig sie über den Austritt aus dem Europarat und die Aufkündigung der Konvention nachdenken, dann müssten wir meiner Ansicht nach merken, dass viele von uns sich nicht bewusst sind, weshalb dieses Wunder, von dem Tiny Kox gesprochen hat, die „Perle des Europarates“, wie es Dick Marty immer nannte, überhaupt möglich wurde.

Hundert Millionen Menschen mussten sterben, damit wir lernen konnten, wie wir die Menschen vor der Willkür des Staates schützen können. Das ist das zentrale Element der Konvention und des Gerichtshofes. Wir müssen uns bewusst sein, dass es aus dieser Katastrophe eine Lehre gezogen wurde und eine enorme Errungenschaft erwachsen ist: Ein Bürger kann gegenüber seinem Staat bei einem überstaatlichen Gericht sein Recht einklagen, wenn der eigene Staat seine fundamentalen Menschenrechte nicht beachtet.

Diese enorme Errungenschaft steht zur Disposition, wenn wir es nicht schaffen, dass dieses überstaatliche Gericht so funktioniert, wie es das von den Staaten, die es ggf. verurteilt, selbst verlangt. Wenn man nämlich in einem Staat 37 Monate warten müsste, um überhaupt eine Empfangsbestätigung zu bekommen, würde der Europäische Menschenrechtsgerichtshof diesen Staat verurteilen, weil sein Gerichtswesen nicht den Grundrechten entspricht!

Wenn wir dann mit Zahlen wie 60 % aus fünf großen Staaten kommen, wobei einer der fünf sogar ein Gründungsstaat der Europäischen Union ist, dann müsste man die Anzahl der Klagen gerechterweise ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl stellen.

Nach dieser Rechnung wären dann interessanterweise einige kleine Staaten an der Spitze, nicht mehr die ganz großen. Die ganz großen sind trotzdem ein Problem, weil bei uns die Angst, ihnen auf die Finger zu klopfen, größer ist als bei den kleinen. Das allerdings ist keine große Tugend.

Vielleicht sollten wir uns stärker vor Augen führen, dass es sich bei Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten genauso wenig wie bei der Demokratie um Errungenschaften handelt, die von einem Tag auf den anderen erreicht werden können, sondern vielmehr um Lernprozesse.

Lernprozesse brauchen Zeit, aber vielleicht nicht so viel Zeit, wie wir ihnen bisher gegeben haben. Einerseits können wir lernen, wie wir zu Hause als individuelle Parlamentarier Dinge besser machen können. Auf der anderen Seite sollten wir uns überlegen, wie wir die Vorgänge hier besser analysieren können, um zu wissen, wie wir zu Hause agieren müssen.

Es wurde z. B. ausgerechnet, dass von den anfangs hängenden über 150 000 Beschwerden 6 000 dringlich und 17 000 wichtig waren. Die Kapazität der Verarbeitung im letzten Jahr des Gerichtshofs lag aber nur bei einem Drittel der als wichtig erachteten Klagen. Das bedeutet, dass es dreimal mehr wichtige Rechtsverletzungen in den Staaten gibt, als wir hier bewältigen können. Diese präzisere Analyse müsste uns helfen, unsere Arbeit hier besser zu organisieren, denn es ist unsere Aufgaben zu verhindern, dass dieses Ungenügen unsererseits dazu führt, dass die Bürger nicht mehr vor der Willkür ihres Staates geschützt werden können.

Das sollten wir genau analysieren, um unsere Arbeit im Legal-Affairs-Ausschuss besser zu gestalten.

Vielen Dank.