SITZUNGSPERIODE 2004

(1. Teil)

BERICHT
2. SITZUNG

Dienstag, 27. Januar 2004, 10.00 Uhr

REDEBEITRÄGE IN DEUTSCH


Andreas GROSS, Schweiz, SOC

Danke, Herr Präsident, meine Damen und Herren,

Dies ist der zweite Bericht des Monitoring-Ausschusses zu Aserbaidschan. Wir haben das erste Mal vor anderthalb Jahren, im Herbst 2002, über Aserbaidschan gesprochen. Ich denke aber, es ist trotzdem wichtig, nochmals „trotz lauter Bäume den Wald zu betrachten“ und uns daran zu erinnern, weshalb wir im Winter 2000/2001, d.h. vor vier Jahren, Aserbaidschan aufgenommen haben. Dafür gab es im Wesentlichen drei Gründe.

Erstens sind wir uns bewusst, dass Länder, Menschen und Völker, die sich den europäischen Normen unterziehen möchten und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie soziale Marktwirtschaft ernst nehmen, und die akzeptieren, dass das, was wir unter Freiheit verstehen, auch eine soziale Basis für jeden Menschen bedeutet, in den Europarat aufgenommen werden. Es gibt keine geografischen Grenzen, sondern nur den Willen, die Normen anzunehmen und in die Kultur einzugehen. Davon sollten wir niemanden ausschließen. Zweitens – und das scheint mir sehr wichtig zu sein – wissen wir, dass Demokratie und Menschenrechte immer unvollendete Ziele, Ansprüche sind. Es gibt keine perfekte Demokratie. Es gibt immer nur Anfänge der Demokratisierung. Die Demokratie kann unaufhörlich verbessert werden, ebenso wie die Situation der Menschenrechte. Beides sind kollektive Lernprozesse. Man hat sie nicht ein für alle Mal, sondern muss unaufhörlich daran arbeiten. Menschen, Völker, Länder, die bereit sind, in diese Lernprozesse einzusteigen, sind uns willkommen. Dieser Wille wurde von Aserbaidschan, von Armenien, und wenige Jahre zuvor auch von Georgien klar zum Ausdruck gebracht. Wir wollten die ganze Region aufnehmen und in der gesamten Region zusammenarbeiten, zumal – und das war der dritte Grund – der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan schon vorher durch einen Waffenstillstand beendet worden war. Es gibt jedoch noch keinen Frieden. Frieden ist etwas anderes als Waffenstillstand. Die Chance, aus einem Waffenstillstand Frieden zu machen, ist größer, wenn beide Länder miteinander hier im Europarat an ihrer Demokratie arbeiten, an der Situation der Menschenrechte und an der sozialen Marktwirtschaft, weil die Not der Menschen sie oft daran hindert, mit Andersdenkenden Frieden zu schließen.

Ich glaube, diese drei Punkte sind heute nicht weniger richtig. Wir haben aber gelernt, dass es sehr schwierig ist, die enormen Verpflichtungen einzuhalten, die sich aus der Mitgliedschaft und aus dem Willen ergeben, sich hier zu engagieren. Der wichtige Punkt, den wir damals schon sahen, war die Übergabe der Macht des Gründers des modernen Aserbaidschan, Heidar Aliev, an seinen Sohn, die jetzt in Form von Wahlen stattgefunden hat. Diese Wahlen waren ebenso wenig demokratisch wie die Wahlen im Winter 2000/2001, nach denen wir uns trotzdem uns zur Aufnahme bereit erklärt hatten. Diese Tatsache ist eine große Enttäuschung. Wir müssen leider im Bericht festhalten, dass die Demokratie in Aserbaidschan noch nicht funktioniert. Man hat die Gelegenheit verpasst zu demonstrieren, dass man in diesem Lernprozess weitergekommen ist.

Abschließende Urteile darüber wären heute aber verfrüht, weil der neue Präsident, dessen Wahl an sich nicht in Frage gestellt wird …

Der Präsident teilt Herrn Gross auf Englisch mit, dass er infolge der Abwesenheit des Mitberichterstatters, Martínez Casañ, über vier weitere Redeminuten verfügt.

Die Frage der Demokratie und der Wahlen war schon im Winter 2000/2001 das große Problem. Wir beobachteten, dass die Aserbaidschanischen Behörden das auch erkannten. Sie haben damals in neunzehn Wahlkreisen die Wahlen wiederholt, weil wir ihnen gezeigt hatten, dass die Manipulationen zu weit gingen und die Wählerlisten nicht in Ordnung waren. Wir erhofften uns, dass sie sich für die nächsten Wahlen, in denen es dann um die Nachfolge von Heidar Aliev gehen würde, mehr Mühe geben würden. In dieser Hoffnung sind wir eindeutig enttäuscht worden. Was sich letztes Jahr, schon Monate vor dem eigentlichen Wahlgang am 15. und 16. Oktober, abgespielt hat, war der Demokratie nicht würdig. Man muss eindeutig festhalten, dass man schon fast ein Held sein musste, um in den Regionen als Oppositioneller auftreten zu können, sei es in den Städten oder auf dem Lande. Zu viele wurden daran gehindert, ihre Grundrechte zum Ausdruck zu bringen. Zu viele wurden daran gehindert, sich zu versammeln. Zu viele wurden daran gehindert, oppositionelle Flugblätter zu verteilen. Zu vielen hat man ihre demokratische Stimme genommen. Dies war Gewalt an den Andersdenkenden. Diese Gewalt hat sich dann am Wahltag, d.h. dem 15. Oktober letzten Jahres, und am folgenden Tag in einer anderen Weise geäußert. Gewalt gegen Menschen, die eine Alternative zur herrschenden Partei wollten, ist am Wahltag selbst und am folgenden Tag in Form von massiven Ausschreitungen in der Hauptstadt Baku ausgebrochen. Dies ist ein großes Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind. Einerseits wurden nach diesen gewaltsamen Ausschreitungen über sechshundert Personen verhaftet, von denen mittlerweile mehr als fünfhundert wieder freigelassen wurden. Über einhundert Personen sind jedoch immer noch im Gefängnis und warten auf einen anständigen Prozess. Bis heute ist jedoch die Untersuchung darüber nicht erfolgt, weshalb es zu dieser Gewalt kam, wer verantwortlich war für Wahlfälschungen einerseits und andererseits dafür, dass sich die oppositionellen Kräfte vor den Wahlen nicht in demokratischer Weise äußern konnten, und wer danach verantwortlich war für Provokationen. Die Schuld ist nämlich nicht einfach nur dem einen oder dem anderen anzulasten.

Wie ich schon ausgeführt habe, kann die Wahl des neuen Präsidenten mathematisch letztlich nicht angezweifelt werden. Ihr Ausmaß und ihre Art aber sind höchst zweifelhaft, obgleich wir die Legitimität des Präsidenten in einem begrenzten Sinn akzeptieren. Eine der wesentlichen Forderungen unserer Resolution besteht darin, dass der neue Präsident, der ein ehemaliger Kollege von uns ist, zeigt, was er hier gelernt hat und bereit ist, mehr zu tun für die Verpflichtungen Aserbaidschans für Demokratie und Menschenrechte, als er seit der Inkraftsetzung seiner Wahl im November getan hat. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, die Verpflichtungen zu wiederholen, sie zu präzisieren und aufgrund der Vorkommnisse vom letzten Herbst anzupassen. Wir wollen die Verantwortlichen auffordern, uns bis zum April/Mai zu beweisen, dass mehr passiert ist, dass ein stärkerer Wille existiert, die Verpflichtungen ernst zu nehmen, und im Juni dann entscheiden, ob die drei Jahre der Mitgliedschaft Aserbaidschans im Europarat wie bisher fortgesetzt werden können oder ob wir andere Maßnahmen in Erwägung ziehen müssen.

Vielen Dank.

Andreas GROSS, Schweiz, SOC

Danke, Herr Präsident.

Ich möchte Ihnen allen für diese gute Diskussion danken. Ich glaube, Herr Seyidov hat jedes Problem sozusagen am besten zusammengefasst. Diese Diskussion war für uns nicht einfach, aber nicht aus den gleichen Gründen, Herr Seyidov. Wie Herr Caccia schon ausgeführt hat, geht es eben auch um die Ehre und die Autorität des Europarates, der sich nicht alles gefallen lassen darf. Ich möchte noch einige Punkte herausgreifen, die mir besonders interessant scheinen, und die zu Beginn der Diskussion vielleicht ein wenig vergessen worden sind.

Herr Symonenko hat völlig Recht, wenn er von einer oligarchischen Gesellschaft spricht. Das ist eines der großen Probleme, die Aserbaidschan von Armenien unterscheiden. Aserbaidschan ist ein reiches Land, doch dieser Reichtum ist ungleich verteilt. 80 bis 90 % der Menschen leben in völliger Armut, während der ganze Reichtum auf die restlichen 10 % – manche sprechen auch von 3 % oder weniger – entfällt. Dieses Problem hat natürlich auch mit der Demokratie zu tun. Wir können dies so nicht akzeptieren und müssen auch den Willen erkennen können, den Reichtum gerechter zu verteilen, so dass nicht zu viele zu wenig, und zu wenige mehr als genug haben.

In diesem Zusammenhang gilt es auch, den anderen Aspekt von Herrn Symonenko aufzunehmen, nämlich das Verhältnis zu unseren Ländern. Er hat gesagt, unsere Regierungen sollten mehr Druck ausüben. Das stimmt, doch unsere Regierungen „schielen“ auch auf diesen Reichtum, denn sie denken nur an das Öl. Sie denken, man könne aufgrund guter Beziehungen im Hinblick auf das Öl die Augen zudrücken, wenn es mit der Demokratie und den Menschenrechten nicht stimmt. Ich glaube, dies ist ein völliger Irrtum. Es kann keine Stabilität geben, wenn der Reichtum so ungleich verteilt ist. Man kann keine wirtschaftliche Entwicklung finden und auch keine Beziehung mit den anderen Ländern, wenn man die Demokratie und die Menschenrechte so schwächt. Es gibt kein anderes Modell als die soziale Marktwirtschaft, in dem Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung zusammengehen. Man kann keine wirtschaftliche Stabilität erreichen – wie vielleicht in Aserbaidschan einige meinen, die jetzt nicht hier sind, sondern in Baku – ohne die Demokratie und die Menschenrechte zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Herrn Slutsky, der jetzt nicht mehr hier ist, hat Herr Kirilov hat völlig recht gehabt: wir idealisieren die Opposition nicht, sondern kritisieren sie auch. Die Opposition greift auch zu schnell zur Gewalt, wenn ihr  selbst Gewalt angetan wird. Dies ist der Teufelskreis, aus dem wir herauskommen, und der große Unterschied zu Georgien. Auch wenn es dem Innenminister nicht gepasst hat: in dieser Beziehung können eben alle von Georgien lernen, dass man sich von der Gewalt emanzipiert und sie nicht anwendet, selbst wenn andere sich ihrer bedient haben.

Drittens ist es, glaube ich, sehr wichtig zu erkennen, dass wir nicht die Demokratie nach Aserbaidschan exportieren müssen. Es gibt genügend Menschen in Aserbaidschan, die wissen, wie man eine Demokratie organisiert. Doch diese Menschen dürfen nicht von denjenigen behindert werden, die vielleicht ihren Reichtum nicht teilen möchten. Das ist der Punkt. Wie auch in Georgien gibt es genügend Menschen in Aserbaidschan, die durchaus eine Demokratie aufbauen können. Andere aber wollen sie vielleicht daran hindern, weil sie zu viele Privilegien für sich behalten wollen. Unsere Aufgabe ist es, eine Quelle der Hoffnung für diejenigen zu sein, die diese Demokratie aufbauen möchten, ohne dass wir jedoch dabei mit dem eigenen Selbstwertgefühl in Widerspruch geraten, wenn wir einen Staat akzeptieren, dessen Regierung wohl manchmal mit uns spielt. Das können wir nicht akzeptieren. Deshalb möchten wir der Regierung und dem Präsidenten ganz klar sagen: wenn bis im Juni keine Fortschritte zu sehen sind, dann können wir Hoffnungsquelle bleiben für diejenigen, die für die Demokratie kämpfen, jedoch weder diesen Staat noch seine Regierung unter uns als gleichberechtigt akzeptieren.