SITZUNGSPERIODE 2007

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(2. Teil)

BERICHT

14. SITZUNG

Mittwoch, 18. April 2007, 10.00 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH


Ruth-Gaby VERMOT-MANGOLD, Schweiz, SOC

(Doc. 11202)

Meine Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir uns bewusst werden, wie viele Instrumente bestehen, die die Menschenrechte gewährleisten, können wir sehr zufrieden sein. Wir haben eine große Anzahl von Konventionen, Resolutionen und Empfehlungen zur Verfügung, auf die wir uns bei der Schaffung der internen Gesetzgebung zum Schutz der Menschenrechte abstützen können. Wir können uns auf die wichtigen Institution des Menschenrechtskommissars, auf das CPT, den Gerichtshof und viele andere Institutionen, aber vor allem auch NGOs wie Amnesty International und Human Rights Watch stützen.

Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land wahrzunehmen und Maßnahmen zur Bekämpfung zu entwickeln ist sehr wichtig. Aber Instrumente, Institute und Beziehungen nützen wenig, wenn die Menschenrechte nur "nice to have" sind und nur dann zitiert werden, wenn es ungefährlich und praktisch ist, aber sofort in den Hintergrund verbannt werden, wenn ökonomische Zwänge mit den Menschenrechten in Konflikt kommen.

Die Umsetzung der Menschenrechte ist in den meisten Fällen mit mühsamen und langfristigen Prozessen verbunden, die die Regierungen und Parlamente, auch wenn es gegen ihren Willen ist durchführen müssen. Für jeden Staat müssen die Menschenrechte Standard werden, wie wir heute schon gehört haben. Heute jedoch ist dieser Standard nirgends erreicht, denn Menschenrechtsverletzungen sind in allen unseren Ländern Tatsache.

Dazu einige Beispiele: in vielen Ländern leben Angehörige von Minderheiten oft in einem rechtsfreien Raum. Kinder von Roma z.B. gehen fast nie zur Schule, die Familien haben kein Recht auf Wohnung, Unterstützung oder Förderung. Minderheitenrechte sind noch immer nicht festgehalten, die Menschen sind einer unguten Situation ausgeliefert.

MenschenrechtskritikerInnen wie Ombudspersonen kritisieren in vielen Ländern die schlechte Situation, in der Gefangene zu leben haben. Vielleicht ist es in Europa nicht so schlimm wie in amerikanischen Staaten, wo Frauen dazu gezwungen werden, ihre Neugeborenen zur Adoption freizugeben. Aber oft dürfen Mütter nicht mit ihren Kindern zusammen im Gefängnis leben.

Der Opfer- und Zeuginnenschutz bei Menschenhandel ist in vielen Ländern nicht gewährleistet. Frauen sind Handelsware, die beliebig missbraucht werden kann. Die Opfer wirksam zu schützen ist jedoch leider meist nicht erste Priorität von Staaten. Daher ist es unabdingbar, dass die diversen Länder die Konvention des Europarates zur Bekämpfung von Menschenhandel endlich ratifizieren. Opfer brauchen wirksamen Schutz; ihre Rechte dürfen nicht verletzt werden.

Die Defizite im Menschenrechtsbereich sind groß: Wir haben von der "Festung Europa" gehört, und das macht mir Angst. Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung sind unabdingbar. Diskriminierung und Ausbeutung am Arbeitsplatz sind üblich, die menschenrechtswidrige Behandlung von Asylsuchenden nimmt zu und tritt immer zu Tage; die Abschiebung von sogenannten Illegalen in Länder ohne Abkommen oder in Länder, in denen gefoltert wird ist üblich. Wir haben viele intern vertriebene Menschen, um die sich niemand kümmert. Wir haben Korruption und den Ausschluß von Frauen aus den Parlamenten und Gremien, die Diskriminierung von Frauen ist üblich und wird noch und noch durchgeführt. Wir haben Armut und Rassismus, und auch das sind Menschenrechtsverletzungen.

Es gibt sehr viel zu tun.

Das ist trotz aller Fortschritte die Realität, und diese Realität ist für mich alarmierend. Wir müssen uns an den Instrumenten orientieren und die Kontrolle, ob Menschenrechte eingelöst werden, verstärken. Wo Menschenrechte verletzt werden, werden Frauen, Männer und Kinder in ihren Rechten, in ihrer Würde und in ihrer Sicherheit verletzt.

Wolfgang WODARG, Deutschland, SOC

(Doc. 11202)

Frau Präsidentin,

werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben gehört, dass es noch viel Unrecht gibt, obwohl wir so lange schon dagegen angehen. Trotz aller Mühe wird dieses Unrecht sogar immer mehr, denn wir werden mehr Staaten und wir sehen mehr. Es ist so, dass es früher wahrscheinlich ebenfalls sehr viel Unrecht gab, doch wurde es nicht wahrgenommen und nicht auf die politische Bühne gebracht und besprochen. Dass dies jetzt geschieht, ist unser Verdienst.

Doch weil wir uns solche Mühe geben werden diejenigen, die egoistisch sind und keine Rücksicht auf die Menschenrechte nehmen, trickreicher. Sie verstecken sich besser und sind in der Lage, Dinge zu tun, die schwer zu erkennen sind und daher erst später aufgedeckt werden. Das bedeutet, dass wir uns auch mehr Mühe geben müssen und neue Instrumente brauchen, um rechtzeitig zu erkennen, wo Menschenrechte gefährdet sind.

Die Gefährdung und Anfechtung der Menschenrechte ist vielfältig. Wir haben neue Formen der Diskriminierung. Wir können Menschen heute nicht nur nach der Hautfarbe und dem Geschlecht unterscheiden, sondern wir kennen ihre genetische Ausstattung und können Aussagen machen über ihre möglichen Stärken und Schwächen. Menschen werden deswegen diskriminiert werden, und wir müssen uns darauf vorbereiten, hier eine Antwort zu finden und sie zu schützen.

Wir wissen, dass es Techniken der Monopolisierung von Wissen gibt, was dazu führt, dass den Menschen Saatgut vorenthalten wird, sodass sie nicht mehr in der Lage sind, langfristig ihre eigene Ernährung zu sichern. Wir wissen, dass es auch in den Medien Monopolisierungen wirtschaftlicher Art gibt, die wir kaum übersehen können. Wir wissen, dass das Verbrechen sich internationalisiert, dass die Methoden der Geldwäsche trickreicher werden. All das sind Techniken, welche die Feinde der Demokratie und der Menschenrechte entwickeln, während wir hier sitzen und versuchen, die Menschen dagegen zu schützen.

Das bedeutet aber, dass es, wenn wir über Kernkompetenzen dieses Hauses diskutieren, nicht reicht, einfach die Überschriften austauschen und einander immer wieder dasselbe zu versichern. Wir müssen ins Detail gehen. Hier brauchen wir die vielen Fachausschüsse und das Wissen von der Biotechnologie, den Finanzsystemen und Wirtschaftssystemen. Wir müssen ganz genau hinschauen, wie durch Patente möglicherweise ganze Völker enteignet werden, wie genau monopolisiert wird und wie Menschen daran gehindert werden, ihre Möglichkeiten zu entwickeln.

Dies alles wird komplizierter, und deshalb mein Appell: Wenn wir uns weiterentwickeln wollen, dann verzichten wir bitte nicht auf die vielen fachlichen Perspektiven, die in diesem Hause vorhanden sind. Wir haben Ausschüsse, die gute Instrumente sind um genau zu detektieren wo Menschenrechte gefährdet sind. Diese Instrumente sollten wir pflegen und weiterentwickeln. Das ist mein Standpunkt.

Ich danke Ihnen.

Christoph STRÄSSER, Deutschland, SOC

(Doc. 11202)

Herr Präsident,

meine Damen und Herren!

In Deutschland ist vor ca. 2 Jahren eine große repräsentative Umfrage unter Jugendlichen bis 25 Jahren durchgeführt worden, die ergeben hat, dass etwa 70% der Befragten, und zwar unabhängig von ihrer Schulbildung und ihrem Bildungsgrad, mit dem Begriff der Menschenrechte nichts anfangen konnten. Eine, wie ich finde, auf den ersten Blick erschreckende Erkenntnis.

Doch wenn man fragt, ob das bedeutet, dass diese jungen Leute auch real mit den Menschenrechten nichts anfangen können, ergibt sich, glaube ich, sofort ein anderes Bild. Denn dieselben Jugendlichen, dieselben Schülerinnen und Schüler sind sofort dabei und zeigen sich solidarisch mit den jungen Menschen aus ihrem Umfeld, wenn sie z.B. erfahren, dass ein Kind, das seit 10 Jahren in unserem Land lebt, nach Afghanistan oder anderswohin abgeschoben werden soll.

Diese jungen Leute engagieren sich, sie gehen auf die Straße, verfassen Petitionen und setzen uns Politikerinnen und Politiker so unter Druck, dass wir alle, die hier sitzen, ob wir wollen oder nicht, solche Menschenrechtsverletzungen in den eigenen Ländern letztendlich verhindern können.

Und das ist die Kehrseite der Medaille; das, was wütend macht. Ich glaube, dass man alleine mit diesem Papier nicht viel anfangen kann; das ist schon oft gesagt worden. Ich würde mir wünschen, dass wir als Parlamentarier als Ergebnis dieser Debatte in unsere Länder gehen und z.B. Menschenrechtsbildung zum Gegenstand an allen Schulen in unseren Ländern machen, die Mitglied des Europarats sind.

Denn meines Erachtens liegt für eine vernünftige Ausgestaltung und eine praktische Umsetzung der Menschenrechte die Zukunft nicht nur in der parlamentarischen Arbeit, der Exekutivarbeit, sondern in der Einbeziehung junger Menschen auf diesem Weg. Denn wenn diese Jugendlichen Bilder von Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt sehen, dann engagieren sie sich, gehen auf die Straße und unterstützen uns bei unserer Arbeit. Ich denke, wir sollten ihnen die Möglichkeit geben, diese äußerst wichtigen Dinge mit uns gemeinsam zu verinnerlichen und in ihr praktisches Leben und damit auch in die Politik umzulegen.

Das zweite, was ich sagen möchte, ist auch etwas emotional, aber auch sehr politisch. Ich bitte, das nicht falsch zu verstehen, aber immer, wenn ich Herrn Hammerwerk?? auftreten sehe, dann kommen mir fast die Tränen. Nicht wegen Ihrer Persönlichkeit und auch nicht wegen Ihrer hervorragenden Arbeit, sondern weil ich weiß, unter welchen Umständen Sie Ihre wertvolle Arbeit machen.

Wenn ich dann auf der anderen Seite sehe, mit wieviel Millionen die Menschenrechtsagentur der Europäischen Union mit einer Einrichtung ausgestattet wird, dann kommen mir in der Tat die Tränen. Meines Erachtens müssten wir alle in unseren nationalen Parlamenten davon ausgehen, dass wir, wenn wir schon die Menschenrechtsagentur haben, auch gemeinsam alle Anstrengungen, materieller, finanzieller oder sonstiger Art unternehmen sollten, um auch Ihre Arbeit, die ich ganz ausgezeichnet finde, in den europäischen Staaten so zum Tragen zu bringen, dass sie überhaupt wirken kann. Wir sollten gemeinsam nach Hause gehen und dafür sorgen, dass Ihre Arbeit, Ihr Staat besser ausgestattet wird, damit Sie erfolgreich arbeiten können. Das brauchen wir alle für unsere Reputation zu Hause.

Dankeschön.

Präsident VAN DER LINDEN

Danke. Sie wissen was wir in dieser Diskussion alles unternommen haben. Wir müssen diese Diskussion in unseren Nationalparlamenten weiterführen. Ich gebe nun das Wort an Frau Papadimitriou aus Griechenland.

Hakki KESKIN, Deutschland, UE/GUE

(Doc. 11202)

Sehr geehrte Damen und Herren.

Ich möchte auf ein Demokratiedefizit in einem für mich sehr wichtigen Bereich verweisen, diesmal insbesondere in den westeuropäischen Staaten. Ich möchte die Europäische Versammlung bitten, in dieser Frage eine gemeinsame Position einzunehmen und den Mitgliedsstaaten eine verbindliche Lösung vorzuschlagen.

Zu Recht wird im Entwurf für eine Resolution unterstrichen, dass "die Repräsentativität der Parlamente einen Kernbestandteil einer Demokratie darstellt. In diesem Zusammenhang muss, so der Bericht weiter, "was das aktive und passive Wahlrecht anbetrifft, jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Religion oder aus sozialen Gründen beseitigt werden."

Meine Damen und Herren, die Staatsbürgerschaft wird zu Recht als die wesentliche und gesetzliche Verbindung zwischen dem Staat und dem Individuum betrachtet. Dass es in den jungen Demokratien in einigen Mitgliedsstaaten des Europarat, was den Stand der Demokratie und Menschenrechte anbetrifft erhebliche Defizite gibt, wissen wir alle. Aber auch die weit gereiften Demokratien in den westeuropäischen Staaten müssen sich genauso selbstkritisch mit ihrer eigenen Lage auseinandersetzen.

Es ist nicht einzusehen, dass Millionen Menschen in diesen Ländern, die seit Jahrzehnten dauerhaft dort leben, nicht die Staatsbürgerschaft dieser Länder haben und damit über keine politische Einflussnahmemöglichkeit verfügen. Es genügt nicht, dieses Thema damit abzutun, dass man sagt, dies sei eben so. Die Hindernisse sind nämlich so groß, dass der Erwerb der Staatsbürgerschaft für viele nicht ohne weiteres möglich ist.

Deshalb appelliere ich an uns alle, eine echte Lösung für dieses Problem zu suchen, das heißt, den Menschen, die dauerhaft in diesen Ländern leben, den Erwerb der Staatsbürgerschaft zu erleichtern, damit sie dort volle Bürgerrechte genießen.

Danke sehr.

Andreas GROSS, Schweiz, SOC

(Doc. 11203)

Der Kern der Menschenrechte ist die Würde. Es gibt keine höherwertige Existenz, ohne dass ein Mensch über sich selber verfügen kann. Deshalb ist auch die Demokratie ein Menschenrecht und nicht ein Privileg irgendwelcher Staatsbürger. Es gibt keine würdige Existenz ohne die Möglichkeit des aufrechten Ganges, und man kann nicht aufrecht gehen, wenn man nicht das Recht hat, über sich selber zu verfügen.

Die Demokratie ist aber mehr als ein Menschenrecht. Sie ist ein Mosaik aus Tausenden einzelner Stücke, die erst zusammen die Qualität von Demokratie ausmachen. Und es ist eigenartig wie wir, obwohl wir hier in einem Haus der Demokratie sind, in der Geschichte Kriterien zur Beurteilung der Menschenrechte entwickelt haben, aber bisher fast keine Kriterien zur Beurteilung der Demokratie, die über die Menschenrechte hinausgeht.

Ich möchte ganz offen sagen, dass ich manchmal denke, wir sind kein Haus der Demokratie, sondern ein Krankenhaus der Demokratie! Das wäre eigentlich gar nicht schlimm, denn wir müssen alle klüger und gesünder werden, und auch der Präsident schreibt in seinem Vorwort: "Demokratie ist ein ewiger Lernprozess". Aber man muss sich dessen auch bewusst sein, dass man noch nicht so ganz gesund ist, sondern gesünder werden kann. Und an dieser Selbskritik hapert es meines Erachtens manchmal.

Es gibt hier niemanden, der nicht von sich sagen würde, er sei ein Demokrat. Wenn wir jedoch zu Hause bei den Bürgern nachfragen (und dieser Bericht ist sehr aus der Sicht der Bürger geschrieben, denn die Qualität der Demokratie entscheidet sich aus der Sicht der Bürger, nicht aus der Sicht gewählter Repräsentanten der Bürger und der Zivilgesellschaft), dann gibt es fast keinen, der nicht von der Qualität unserer Demokratie enttäuscht ist.

Es ist eines der drei größten Paradoxa der heutigen Zeit, dass noch nie so viele Menschen in einer Demokratie gelebt haben, dass gleichzeitig aber kaum jemals so viele von der Demokratie enttäuscht waren. Ein anderes Paradoxon ist die Tatsache, dass die Demokratie, seit sie sich als einzige Quelle legitimer politischer Macht durchgesetzt hat, was erst vor etwa 16 Jahren endgültig und universell geschehen ist, und seit kein Politiker mehr sagt, er sei kein Demokrat, seltsam schwach und ihre Krisenhaftigkeit deutlich geworden ist.

Um sich dies bewusst zu machen, muss man an die Wurzeln zurück, und dies sind in der modernen Gesellschaft eindeutig die Amerikanische und die Französische Revolution, die viel miteinander zu tun hatten. Z.B. gab es mit Thomas Paine und Condorcet Akteure in beiden Revolutionen, und die Menschenrechtserklärung des französischen Volkes war der erste Referenztext für die Demokratie.

Wenn man dort nachschaut, was eigentlich mit Demokratie gemeint ist, dann sieht man, dass Demokratie viel mehr bedeutet als die alle vier Jahre stattfindende Wahl zwischen Politikern, zwischen Pepsi Cola und Coca Cola. Freiheit ist viel mehr als die Wahl zwischen Eliten. Demokratie und Freiheit bedeuten, dass wir zusammen auf unsere eigenen Lebensgrundlagen Einfluss nehmen können.

Demokratie stellt die Rechte, Verfahren und Institutionen zur Verfügung, damit die notwendigerweise erfolgenden Konflikte möglichst ohne Gewalt ausgetragen werden können. Und wann immer Gewalt auftritt, ob ausdrücklich oder versteckt, dann stimmt etwas mit der Demokratie nicht. Das ist ein untrügliches Zeichen für die Qualität von Demokratie.

Demokratische Macht ist die Fähigkeit, das Recht und der Wille, mit anderen zusammen auf die eigene Existenz Einfluss zu nehmen. Leben ist kein Schicksal, das war auch der große Slogan der Französischen Revolution. Und die Repräsentanz, d.h. die Wahl jener, die wie wir das Volk im Parlament vertreten, war nur eine Krücke zur Realisierung der Demokratie, nicht ihr einziger Bestandteil. Dass dieses System heute als das einzige gesehen wird, ist eines der großen Probleme und Krisenphänomene der Demokratie.

Das ist das zweite große Paradox: Wie die schöne britische Zeitschrift "The Economist" – keine linke Zeitschrift, wie Sie wissen – gesagt hat, war die Repräsentation vor 200 Jahren ganz sicher das Wichtigste, weil damals viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten, nicht ausreichend informiert waren, um über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Auch heute sind Repräsentanten immer noch nötig, das ist absolut richtig.

Doch heute ist der Unterschied zwischen einem Repräsentierten und einem Repräsentanten praktisch gleich Null. Es gibt sogar viele Bürgerinnen und Bürger, die in gewissen Elementen unserer Gesellschaft besser Bescheid wissen als wir. Und das ist das zweite Paradox, welches die Frustration über die Demokratie ausmacht, von der ich am Anfang gesprochen habe. Es gibt in der Gesellschaft einen Überschuss an Fähigkeiten, an Know-how, der von den Institutionen nicht wahrgenommen wird.

Die demokratischen Institutionen erlauben es der Gesellschaft nicht, ihr eigenes Potenzial zu realisieren. Und dies frustriert viele Menschen, weil sie viel mehr tun könnten, als nur Repräsentanten zu wählen. Deshalb ist eine Perspektive des Berichtes die, dass wir über die Wahlen hinaus zu Hause auf allen Ebenen – national, regional und lokal – die verbindlichen partizipativen Rechte der Menschen erweitern müssen. Über die Wahl hinaus, nicht gegen die Wahl, aber die Wahl ist nicht das einzige Moment des Freiseins. Wir sind nicht nur am Sonntag, wenn wir wählen gehen, frei, sondern auch werktags und vier Jahre lang jeden Tag.

Und das dritte große Paradox, welches die Krisenhaftigkeit der Demokratie heute deutlich macht ist folgendes: Demokratie ist viel mehr als ein Zählrahmen, viel mehr als Rechte und Verfahren; Demokratie ist auch ein Versprechen, dass Lebenschancen gleich verteilt werden, dass keiner zu kurz kommt, wie es Herr Glesener von der Sozialen Kommission gesagt hat. Damit dies jedoch möglich ist, müssen Demokratie und Wirtschaft auf der gleichen Ebene spielen.

Heute gleicht die Demokratie dem Steuerruder eines Schiffes, das so kurz ist, dass es nicht mehr ins Wasser reicht. Da gibt es Leute, die sagen, dann könne man das Steuerruder ja gleich auf den Misthaufen der Geschichte werfen, doch andere Leute sagen, das Steuerruder müsse verlängert werden. Deshalb ist die transnationale Demokratie als Voraussetzung dafür, dass die Märkte, die Wirtschaft, im Interesse der Menschen zivilisert werden können, dringend nötig.

Denn Demokratie steht auch für die Vertretung des Allgemeininteresses, des Allgemeingutes, und das müssen wir auch als zweite Perspektive sehen.

Wir müssen Europa demokratisieren. Europa hat die Demokratie genauso nötig wie die Demokratie Europa nötig hat. Und wenn wir beides tun, nämlich zu Hause verfeinern und national erweitern, dann können wir zu Hause und im Europarat dafür sorgen, dass die Demokratie den Weg aus der Krise findet und wir das Vertrauen der Menschen, die heute kein Vertrauen mehr in uns haben wieder erlangen.