AL10CR35

AS (2010) CR 35

 

DVD edition

SITZUNGSPERIODE 2010

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(4. Teil)

BERICHT

35. SITZUNG

Donnerstag, 7. Oktober 2010, 15.00 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH

Marlene RUPPRECHT, Deutschland, SOC

(Dok. 12262)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

sehr geehrter Herr Präsident!

Das Recht der Kinder auf Bildung ist ein Menschenrecht. Egal, welcher Ethnie sie angehören, wo sie herkommen, ob sie arm oder reich sind, ob sie Flüchtlinge sind, ob sie behindert sind oder nicht – es ist ein Menschrecht, das ihnen zusteht.

Jahrhunderte lang war es so, dass ein Kind, wenn es mit Behinderung geboren wurde oder eine Behinderung erwarb, ausgesondert und möglichst nicht der Öffentlichkeit gezeigt wurde. Doch man lernte dazu, und mit den Menschenrechten verstand man auch, dass ein solches Verhalten unmenschlich war, und dass auch behinderten Kindern Menschenrechte zustanden.

Bei uns in Deutschland begann man damals mit einer vollkommen positiv gemeinten Sonderförderung; man führte eine positive Diskriminierung ein, um diese Kinder an Bildung heranzuführen. Hervorragende Fachkräfte wurden ausgebildet, und die Kinder erhielten sehr viel, was Bildung und Ausbildung anbelangt.

In den Kinderrechten wurde das Recht der Kinder, auch auch der behinderten, auf Bildung festgeschrieben (Art. 23). Nun haben wir seit 4 Jahren die UN-Konvention für behinderte Menschen, die ich übrigens für eine Weiterentwicklung der Menschenrechte halte. Sie geht einen Schritt weiter, denn sie dokumentiert, dass es ebenso normal ist, behindert zu sein wie nichtbehindert - etwas, das bisher nicht so ausgedrückt wurde.

Die Konvention legt fest, dass alle, ob gesund, krank oder behindert, das Recht auf die Förderung haben, die sie brauchen, und dass wir unsere Welt daran anpassen müssen. Dieser inklusive Gedanke ist neu. Ich glaube, dass alle Staaten am Anfang der Umsetzung dieses Prozesses stehen. Dazu bedarf es viel Kraft; manche haben noch einen weiteren Weg zurückzulegen, andere sind schon viel weiter, aber noch nicht in der Inklusion angekommen.

Sie müssen ihre bisherigen Strukturen umbauen, um die Kinder wieder alle zusammen zu bringen. An diesem Prozess, der meiner Ansicht nach mindestens 10 Jahre dauern wird, müssen der Europarat und alle Institutionen gemeinsam arbeiten. Das ist die Aufgabe, die wir uns gemeinsam gestellt haben, wenn wir wollen, dass Kinder auf diesem Planeten mit Toleranz und Menschlichkeit aufwachsen und erleben, dass sie angenommen werden, egal wie sie sind.

Danke.

Katrin WERNER, Deutschland, UEL/GUE

(Dok. 12262)

Herr Präsident,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zuerst möchte ich mich im Namen meiner Gruppe, der Vereinigten Europäischen Linken, beim Berichterstatter, Herrn Ayva, für den interessanten Bericht und bei Frau Gül für ihren Beitrag bedanken.

Wir unterstützen die zentrale Forderung nach inklusiver Bildung für behinderte und kranke Kinder. Wir stehen zu der Überzeugung, dass die Verschiedenartigkeit von Kindern eine Bereicherung für alle Kinder ist. Die Förderung einer positiven gesellschaftlichen Haltung zu inklusiven Bildungsmodellen ist eine der zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren.

Das Beispiel Deutschland wird im vorliegenden Memorandum als positives Beispiel herangezogen. Die Möglichkeit, Kinder mit Behinderungen in Regelschulen zu unterrichten, wird unterstrichen. Die Realität sieht bei weitem nicht so positiv aus. 85 Prozent der Kinder mit Behinderung gehen in der Bundesrepublik auf Sonderschulen. 0,0 Prozent dieser Sonderschülerinnen und Sonderschüler erreichen die Fachhochschulreife oder die Allgemeine Hochschulreife.

Kranken Kindern kommen in Deutschland besondere Betreuungsangebote zugute, in der föderalen Bundesrepublik leider 16 unterschiedliche. Ob ein krankes Kind angemessen unterrichtet wird, hängt davon ab, wo es lebt und wo es krank wird.

2007 hat der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Venor Muñoz, die soziale Selektion im deutschen Bildungssystem kritisiert, die insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien, aus armen Familien und Kinder mit Behinderung benachteiligt. Seitdem hat sich eine Bildungspolitik fortgesetzt, die in Anbetracht demografischer Entwicklungen und proklamierter Sparzwänge Kommunen dazu zwingt, Schule nach Schule zu schließen. Es bleibt dabei, dass wohlhabende Eltern ihre Kinder mehr und mehr auf private Schulen schicken. Zurück bleiben sozial Schwache, Migrantinnen und Migranten und Behinderte.

Wenn in meinem Wahlkreis, in Trier, gerade einmal zwei Stunden von hier, eine von vier Realschulen gestrichen wird, dann werden Schulwege länger. Die Leidtragenden sind nicht zuletzt Kinder mit Behinderung.

Deutschland ist ein Beispiel. Uns, die Vereinigte Europäische Linke, interessiert, wie es andere europäische Länder mit Theorie und Praxis beim Zugang behinderter Kinder zu Bildung halten. Vielleicht kann der Berichterstatter dazu noch einmal Auskunft geben.

Es bleibt dabei: Die besten Modellprojekte bringen nichts, wenn es nicht den ehrlichen Willen zur Einbeziehung von Kindern mit Behinderung gibt. Die Ratifizierung der besten Konvention ist wenig wert, wenn unser Bildungssystem unterfinanziert bleibt. Eine Schule für ALLE braucht politischen und gesellschaftlichen Willen, braucht eine strukturelle und finanzielle Grundlage. Nur so können Kinder voneinander und miteinander lernen.

Marlene RUPPRECHT, Deutschland, SOC

(Dok. 12345)

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

lieber Kollege Omtzigt!

Wir sind uns sicher nicht immer einig, aber wenn es um die Kinder geht, haben wir alle dasselbe Anliegen.

Gott sei Dank müssen wir uns nicht um jedes Kind kümmern. Der größte Teil unserer Kinder wächst in Liebe und Geborgenheit bei seinen Eltern auf. Nach Studien in Deutschland sind es über 80%, die sehr glücklich sind und denen es gut geht.

Aber leider gilt das nicht für alle. Es gibt Kinder, denen es schlecht geht, weil ihre Eltern nicht gut zu ihnen sind, weil sie auf der Flucht aus Krisengebieten sind oder gar Opfer von Kinderhandel wurden. Es gibt natürlich auch Kinder, die auf der Straße leben, weil sie von zu Hause weggelaufen sind.

Wenn Eltern diese Aufgabe der Fürsorge nicht wahrnehmen können, dann muss es der Staat tun. Doch muss er diese Aufgabe nicht selbst erledigen. Bei uns in Deutschland sagen wir, dass er das Wächteramt hat: Er hat darauf zu achten, dass kein Kind ohne Fürsorge bleibt.

In Deutschland wird diese Fürsorge für Kinder zunächst in der Verfassung geregel, in der sie einen hohen Stellenwert genießt, aber auch durch besondere Gesetze im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Wir versuchen es immer erst mit familienunterstützenden Maßnahmen. Erst wenn diese nicht greifen, kommt es zur Inobhutnahme, zur Herausnahme aus der Familie.

Dazu brauchen wir qualifizierte Menschen, die bereit sind, diese Kinder zur Pflege aufzunehmen. Wir können den Wechsel von der Institution hin zur Pflegefamilie nicht vollziehen, ohne für die Qualifizierung derer zu sorgen, die diese Kinder aufnehmen, ob in einer Institution oder in einer Pflegefamilie.

Das ist das Grundprinzip, nach dem wir handeln müssen: Qualität und Ausbildung, damit die Kinder wirklich den Schutz und die Förderung bekommen, die sie brauchen. Auch darf dies nicht gegen ihren Willen geschehen. Die UN-Kinderrechte basieren auf drei Säulen: Schutz, Förderung und Beteiligung. Damit kommen wir wieder zu dem Schlüsselwort „nichts über uns, ohne uns“; d.h. die Kinder sind an der Entscheidung zu beteiligen. Dazu braucht es kindgerechte Wohnformen und Einrichtungen, die wir, wo noch nicht geschehen, auf den Weg bringen müssen.

Wir brauchen aber auch die rechtliche Verankerung. Ich kämpfe in Deutschland dafür, dass diese drei Bausteine in unserer Verfassung festgeschrieben werden. Bisher haben wir das noch nicht geschafft. Ich hoffe, dass einige Staaten hier weiter sind und dies in ihrer Verfassung verankert haben. So wird das Recht, von uns allen mitgetragen und geschützt werden, auch für die Kinder nachlesbar.


In diesem Sinne unterstütze ich den Bericht. Vielen Dank noch einmal an Herrn Omtzigt. Ich hoffe auch, dass wir so in unseren Ländern verfahren, dass wir uns diesen Bericht zu Herzen nehmen und tatsächlich diese kindgerechten Wohn- und Lebensformen für die Kinder finden, wenn sie denn der elterlichen Liebe entbehren müssen.


Danke.

Katrin WERNER, Deutschland, UEL/GUE

(Dok. 12345)

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

sehr geehrte Kolleginnnen und Kollegen!

Auch ich möchte mich hier als allererstes im Namen meiner Gruppe der Vereinigten Europäischen Linken bei dem Berichterstatter, Herrn Omtzigt, für einen interessanten Bericht bedanken, der deutlich macht, dass fehlende elterliche Fürsorge für Kinder durchaus ein europäisches Problem darstellt.

Wir erkennen die Gefahren an, denen sich Kinder in Zeiten der Globalisierung ausgesetzt sehen, wie etwa, von den eigenen Eltern zurückgelasen zu werden, dem Kinderhandel zum Opfer zu fallen, oder auf der Straße leben zu müssen.

Alle diese Risiken haben oft eine Wurzel: Armut. Wer über Kinder ohne elterliche Fürsorge spricht, darf das Problem der Kinder- und Familienarmut nicht unerwähnt lassen. Für Familien ist beispielsweise in Deutschland das Armutsrisiko in den letzten Jahren rasant gestiegen. Waren es 1970 noch 7 Prozent aller Familien, die von Armut bedroht waren, lag der Anteil 2008 schon bei 13 Prozent. 2,5 Millionen arme Kinder leben in meinem Land.

Wir teilen die Auffassung, dass Kinder unter normalen Umständen am besten in der ursprünglichen Familie aufgehoben sind. Dazu gehört aber auch, mit einer gerechten, kinder- und familienfreundlichen Politik präventiv zu arbeiten – bevor die Kinder allein gelassen werden.

Hier ist der Staat gefragt. Ohnehin darf der im vorliegenden Entwurf gepriesene Weg weg von der Kinderbetreuung in Institutionen keinen Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung bedeuten. Für viele Kinder, insbesondere im jugendlichen Alter, Kinder, die auf der Straße gelebt haben, sind Pflegefamilien nicht immer der richtige Ort zum Leben. Für sie braucht es Angebote wie z.B. betreutes Wohnen, die auskömmlich finanziert sein müssen. Staatliche, auch institutionelle, Angebote müssen bestehen bleiben, wo Kinder in Not sind.

Im Entwurf der Entschließung bleibt das Schicksal von Flüchtlingskindern unerwähnt. Jährlich werden hunderte Minderjährige ohne Begleitung in ihre Heimatländer abgeschoben – was aus ihnen wird, interessiert die Abschieber nicht.

Die massenhafte Abschiebung von Roma ist ein anderes Beispiel. 75 Prozent der abgeschobenen Roma-Kinder besuchen nach der Abschiebung nie wieder eine Schule. Sie und ihre Familien werden Armut und sozialer Ausgrenzung überlassen. Dass dies Kinderhandel und Kinderarmut Tür und Tor öffnet, liegt auf der Hand.

Elterliche Fürsorge braucht soziale Sicherheit. Wer sich um das Wohl von Kindern bemüht, muss für angemessene Betreuungsangebote sorgen, aber eben auch für eine humane Familien-, Sozial- und Ausländerpolitik. Nur so schaffen wir ein Europa für Kinder und mit Kindern.