AL12CR03 |
AS (2012) CR 03 |
Provisorische Ausgabe |
SITZUNGSPERIODE 2011
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(1. Teil)
BERICHT
3. SITZUNG
Dienstag, 24. Januar 2012, 10.00 Uhr
REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH
Marieluise BECK, Deutschland, ALDE / ADLE
(Dok. 12816)
Herr Präsident,
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich danke Ihnen für Ihren Bericht und möchte gern für die Gruppe ALDE noch einmal darauf hinweisen, dass wir es hier mit ganz grundlegenden prinzipiellen Fragen von Demokratie zu tun haben.
Die Tatsache, dass zwei bosnische Bürger, der eine jüdischen Glaubens und der andere der Herkunft der Roma, vor den Europäischen Gerichtshof gezogen sind, um das demokratische Grundrecht des aktiven und passiven Wahlrechts einzuklagen, hat uns allen einen Spiegel vorgehalten. Nicht nur denjenigen, die in Bosnien-Herzegowina von der Politik der ethnischen Teilung profitieren und auch ihre Macht erhalten, weil sie als Parteiführer von ethnischen Parteien ihren Bevölkerungsgruppen sagen: „Wählt uns, wir schützen euch vor den anderen.“
Auch uns wird ein Spiegel vorgehalten, denn Dayton ist ein Produkt der internationalen Staatengemeinschaft. Dayton ist eine Verfassung, die innerhalb von zwei Wochen auf einem Flughafen zusammengebastelt worden ist und in der das Prinzip der ethnischen Repräsentation festgelegt wurde. Das ist etwas, was das Land seit Jahren daran hindert, wirklich zu einer Nation zu werden.
Insofern ist es richtig, an die Verantwortung der bosnischen Politiker und Politikerinnen zu appellieren, das ganz eindeutige Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes endlich umzusetzen. Doch es ist natürlich genauso wichtig, auch an jene zu appellieren, die bis zum heutigen Tag die Verantwortung für Dayton tragen: UN und EU haben je einen high representative, es treffen sich sehr viele internationale Akteure auf bosnischem Boden, und trotzdem geht es nicht voran.
Bosnien war bis zum Zerfall Jugoslawiens die Republik mit einem besonders hohen Anteil gemischter Ehen. Es war sogar so, dass die Menschen eigentlich gar nicht mehr wussten, welcher Ethnie oder welcher vermeintlichen Ethnie sie zugehörten. Der Statistik nach waren 38 % der Familien gemischt.
Dann kam der Krieg und dann etwas Unheilvolles, was wir in Deutschland kennen: Die Menschen wurden gezwungen, sich einer Ethnie zuzuordnen, also sich zu definieren, etwas, was sie vorher nie gemacht hatten, weil sie eben Jugoslawen oder Bosnier waren.
Heute sieht die Realität im politischen Leben wie folgt aus: Wer sich nicht als Serbe, Kroate oder Bosniake definiert, kann nicht für das Präsidium kandidieren. Das ist ein unhaltbarer Zustand, weil Europa damit in eine Zeit zurückfällt, in der die Menschen dazu gezwungen wurden, sich ethnisch zu definieren, sich einer Ethnie zuzuordnen, die vielleicht bestenfalls eine Religion ist.
Ich glaube, wir müssen ganz deutlich machen, dass das allen demokratischen und republikanischen Grundsätzen widerspricht. Ich wünsche dem bosnischen Volk, dass es sich von den politischen Führern befreit, die von dieser ethnischen Zuteilung profitieren, weil sich ihre Macht nur so manifestiert.
Schönen Dank.
Emanuelis ZINGERIS, Sitzungsvorsitzender
Jetzt möchte ich Herrn Schennach aus Österreich benennen, der im Namen der sozialistischen Fraktion spricht. Bitte, Herr Schennach.
Stefan SCHENNACH, Österreich, SOC
(Dok. 12816)
Herr Vorsitzender!
Ich begrüße die vielleicht etwas ungewöhnliche Schärfe dieses Berichtes, die wichtig für Bosnien, aber auch für unser Bewusstsein ist. Ich komme aus Österreich, und bekanntlich beginnt der Balkan am Wiener Südbahnhof!
Doch vielleicht kann ich hier auch ein wenig um Verständnis für Bosnien werben. Bosnien ist immerhin jenes Herz des Balkans, in dem sowohl der Zweite Weltkrieg, als auch der Jugoslawienkrieg seine grausamste Spur auf dem Balkan hinterlassen hat. Wir müssen uns hier in Erinnerung rufen, dass Bürgerkrieg einen Riss bedeutet, der durch die Seelen und die Herzen der Menschen, durch Familien, Gemeinschaften, Dörfer und Städte geht. Das ist in Bosnien allgegenwärtig.
In Dayton wurde dann versucht, eine Verfassung zustande zu bringen. Dies geschah jedoch ohne wirkliche Kenntnis der Situation dieses Landes, das mit Sarajewo eine Stadt besitzt, die neben Jerusalem und New York als einer der größten kulturellen, ethnischen und religiösen Schmelztiegel unserer Gesellschaft galt. In Unkenntnis dieser Lage wurde in Dayton eine Verfassung geschaffen, die Menschen ausgrenzt, sofern sie sich nicht zu einer Religion bzw. einer Volksgruppe bekennen. Diese Verfassung ist untauglich, und unter dieser Situation leidet Bosnien bis heute.
Dennoch müssen wir Anforderungen an Bosnien stellen. Natürlich ist es zum Verzweifeln: Bosnien bewegt sich in seinen politischen Reformen langsamer als eine Schnecke. Doch in meinem eigenen Land haben wir über 50 Jahre gebraucht, und sind noch immer dabei, der jüdischen Bevölkerung, die im Zweiten Weltkrieg verfolgt oder ermordet wurde, ihre Rechte zurückzugeben. Man kann sich also vorstellen, was das erst im Rahmen eines Bürgerkrieges bedeutet.
Ich hoffe, Bosnien betrachtet das, was wir hier heute beschließen, als eine Hilfe, denn es braucht diesen Rat. Ich selbst arbeite sehr viel mit bosnischen Jugendlichen an den dortigen Universitäten zusammen und stelle dabei fest, dass es längst keinen Kontakt zwischen der Jugend von Bosnien-Herzegowina und den politischen Akteuren mehr gibt.
Das ist eine dramatische Situation, denn jene Akteure, die sich hier in dieser ethnischen Segregation eingenistet haben, leben ganz gut davon, aber sie verspielen derzeit die Zukunft der Jugendlichen in ihrem Land. Es ist unsere Aufgabe, den jungen Bosniern diese Handreichung zu geben, um jene Gräben, in denen ihre politischen Vertreter – und ganz wenigen Vertreterinnen - stecken, endlich überbrücken zu können.
Ein letzter Punkt: Ich habe in den letzten zehn Jahren unermüdlich darauf hingewiesen und dafür gekämpft, das Visa-Regime endlich zu beseitigen. Dass es nun endlich gefallen ist, ist äußerst wichtig! Wenn die Großeltern den jungen Leuten erklärten, dass sie selbst unter Tito ohne Visum in ganz Europa einreisen konnten, dann fühlten sich die Jugendlichen, die ohne Visum nicht reisen konnten, eingesperrt.
Es ist wichtig, dass die Jugend auch etwas anderes sieht und dadurch Druck aufbaut. Darum begrüße ich im Namen unserer Gruppe diesen Bericht außerordentlich.
Emanuelis ZINGERIS, Sitzungsvorsitzender
Herzlichen Dank.
Marina SCHUSTER, Deutschland, ALDE / ADLE
(Fragen an den Rt Hon. David LIDINGTON, Außenminister und Minister für Europa und den Commonwealth, Großbritannien, Repräsentant des Ministerratsvorsitzes durch Großbritannien)
Geehrter Herr Minister,
im Namen der ALDE-Fraktion möchte ich Ihnen für Ihren Bericht danken. Auch ich habe eine Frage, die sich mit der Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beschäftigt, und zwar eine ganz spezielle. Wir habe ja kritische Stimmen aus Großbritannien vernehmen müssen.
Meine Frage geht zum Bereich der Individualklage. Es ist vollkommen klar, dass das Recht auf Individualklage elementar ist. Aus meiner Sicht aber ebenso elementar ist das Recht auf eine Individualentscheidung, gerade bei Wiederholungsfällen. Wie sehen Sie das?
Doris FIALA, Schweiz, ALDE / ADLE
(Fragen an den Rt Hon. David LIDINGTON, Außenminister und Minister für Europa und den Commonwealth, Großbritannien, Repräsentant des Ministerratsvorsitzes durch Großbritannien)
Herr Minister, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Allein im Jahr 2011 verstarben bis Ende Oktober im Mittelmeer 2000 Bootsflüchtlinge. Wir wissen alle, dass die Schengen-Außengrenzen überfordert sind. Die Rücknahme von Asylsuchenden in das Erstland der Gesuchssteller ist ungenügend.
Was ist aus Ihrer Sicht zu tun, damit der Schengen-Dublin-Vertrag nicht plötzlich gekündigt wird und sich dramatische Vorfälle noch verstärken?
Besten Dank.