AL13CR10

AS (2013) CR 10

 

Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2013

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(2. Teil)

BERICHT

10. SITZUNG

Montag, 22. April 2013, 11.30 Uhr

REDEBEITRÄGE AUF DEUTSCH

Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Ansprache

Herr Präsident,

Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten,

Herr Generalssekretär,

Exzellenzen,

Verehrte liebe Gäste!

Vielen Dank für die so herzliche Begrüßung. Sie waren so freundlich, mich hierher einzuladen und mir alle Freiheiten zu gewähren, die sich ein Redner nur vorstellen kann. Es gibt heute kein enges Parlamentsprotokoll, das mich einschränken würde, es gibt keine Themenvorgabe, an die wir uns halten müssen, und es gibt auch keinen Verhandlungsspielraum, der schon abgesteckt wäre, bevor der erste Satz gesprochen wird.

Das freie Wort ist ein großes Privileg und für jemanden wie mich, mit meinem Alter und meiner Herkunft, ist es ein historisches Geschenk. Zuerst möchte ich es nutzen, um Ihnen, den Mitgliedern und Partnern des Europarates, für Ihre Arbeit zu danken und Ihnen den Rücken zu stärken für alle politisch unbequemen Diskussionen. Mich beschäftigt die Frage: Wie können wir diese kostbare, aber leider oft unterschätzte Institution aus dem Schatten der Europäischen Union herausholen und ins rechte Licht rücken?

Im Anschluss an diesen Dank möchte ich Ihnen sagen, dass ich als Fürsprecher des Europarates gekommen bin, weil ich glaube, dass er und seine Parlamentarische Versammlung mehr Aufmerksamkeit und mehr Unterstützung verdienen, um ihr Mandat völlig ausschöpfen zu können. Ich bin als Verbündeter zu Ihnen gekommen.

Mein Besuch in Straßburg hat natürlich ein Leitthema: Die Menschenrechte. Deshalb möchte ich Ihnen eines meiner wichtigsten Anliegen gleich zu Beginn sagen. Wir brauchen den Europarat weiterhin - und sogar noch mehr als bisher - als kritisches Forum für die Menschenrechte.

Ich stehe vor Ihnen, weil Menschenhandel und Zwangsprostitution ein Ende haben müssen, weil Oppositionelle sich nicht vor Verfolgung oder gar um ihr Leben fürchten müssen, weil Menschen nicht diskriminiert werden dürfen, aus welchem Grund auch immer. Erlauben Sie mir, mit einem Dank für das Erreichte zu beginnen.

Ich spreche als deutsches Staatsoberhaupt vor diesem Gremium, der ältesten politischen Organisation Europas. Sie entstand als Reaktion auf zwei furchtbare Kriege, die Millionen Menschen das Leben gekostet hatten und den Kontinent fast ein halbes Jahrhundert lang teilten.

In Artikel 1 der Satzung heißt es: „Der Europarat hat die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen.“ Dass das 1949 wirklich sehr viel bedeutete, können Sie entweder erahnen oder Sie wissen es aus eigener Lebenserfahrung: die große Sehnsucht nach Frieden, den Mut zur politischen Zusammenarbeit und den damals nur schwer vermittelbaren Gedanken, dass sich die Völker Europas wirtschaftlich, sozial und kulturell wieder annähern könnten.

Der Europarat trug damals die Vision eines politischen Europas schon in sich, lange bevor die Europäische Union ihren Weg über Vorstufen, wirtschaftliche Verflechtung und dann die gemeinsame Währung in Richtung einer auch politischen Vertragsgemeinschaft aufnahm.

Der Europarat entwickelte beständig und besonders nach dem Ende des Kalten Krieges eine ganz besondere Strahlkraft, an die sich viele mit großer Dankbarkeit erinnern – ich gehöre dazu.

Genau in diesem Saal hatte Michail Gorbatschow im Sommer 1989 als Sondergast am Rednerpult gestanden und seine Idee vom „gemeinsamen Haus Europa“ zu einer Hoffnung für den ganzen Kontinent werden lassen, übrigens drei Monate, bevor Ungarn seine Grenze öffnete und vier Monate vor dem Fall der Berliner Mauer. Die Geschichte hat Gorbatschow in diesem Punkt Recht gegeben: aus ideologischen Gegnern wurden Partner.

Im Verlauf eines guten Jahrzehnts sind, abgesehen von zwei Ausnahmen, alle ehemals kommunistischen Staaten dem Europarat beigetreten. Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat werden so auch zum Leitbild in mittel- und osteuropäischen Staaten.

Heute sind über 800 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus 47 Ländern hier im Europarat vertreten. Kein Zweifel, der Europarat ist das größte Haus, das wir auf unserem Kontinent jemals gebaut haben! Dieser paneuropäische Charakter zeichnet ihn gegenüber allen anderen europäischen Institutionen aus. Der Europarat weitet unseren Blick auf den ganzen Kontinent und ist Hüter unserer Werte und Grundprinzipien, weit über die Grenzen der Europäischen Union hinaus. Deshalb ist es mir eine Ehre, heute hier bei Ihnen zu sein.

47 Staaten, das ist eine wahrlich große und vielgestaltige Gruppe. Der Europarat konstituiert eine Gemeinschaft vom Atlantik bis zum Pazifik, vom Nordkap bis zum Bosporus. Allerdings wird er je nach Himmelsrichtung unterschiedlich wahrgenommen, unterschiedlich genutzt und leider oft auch unterschiedlich gewürdigt.

Die westeuropäische Öffentlichkeit debattiert Europathemen ja meist im Zusammenhang mit den Institutionen der Europäischen Union und seltener mit dem Stichwort „Europarat“.

Im Osten unseres Kontinents und im Mittelmeerraum hatte und hat der Europarat eine viel stärkere Bedeutung.

Ich erinnere mich gut: Während der kommunistischen Zeit war neben den Vereinten Nationen der Europarat wichtiger Orientierungspunkt für Menschenrechtler und Oppositionelle. Später bot er Unterstützung beim Aufbau der neuen nationalen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südeuropa. Es fällt mir so leicht, für eine Institution mit einer solchen Geschichte und einer solchen politischen und ethischen Grundlage Fürsprecher zu sein.

Aber ich bin darüber hinaus ja auch Mitgestalter und ich bin Mitkämpfer! Bevor ich meinen Blick in die Zukunft richte, möchte ich noch einmal bekräftigen, was unser Selbstverständnis ausmacht und weiter ausmachen muss und welche Erwartungen ich mit dem Europarat und seiner Arbeit verbinde.

Mein erster Punkt: Rechte und Freiheiten auf dem Papier genügen nicht, sie müssen in der Praxis gewährleistet sein. Der Beitritt zum Europarat war und ist ja freiwillig, aber das Bekenntnis im Augenblick des Beitritts muss dauerhaft sein und verlässlich bleiben. Wer zum Europarat gehört, hat sich den Werten und den im Rahmen des Europarats vereinbarten Rechtsnormen verpflichtet. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention zählen inzwischen 211 weitere Verträge dazu - das ist eine beeindruckende Zahl.

Die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, die Abkommen möglichst zügig in die nationalen Rechtsordnungen umzusetzen. Die nationalen Organe dürfen diesen gemeinsamen Wertekanon nicht aushöhlen.

Das betrifft nun ganz besonders die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zur Glaubwürdigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention gehört für mich, dass wir sie tatsächlich als gemeinsames Gut betrachten und behandeln.

Ich habe kürzlich schon selbst Gesetze unterzeichnet, die notwendig wurden, weil Deutschland wegen der Verletzung von Menschenrechten vom Menschenrechtsgerichtshof verurteilt worden war und um zu gewährleisten, dass nationales Recht und das Handeln der staatlichen Organe menschenrechtskonform sind. Alle 47 Mitgliedsstaaten müssen die jeweiligen Konsequenzen aus Verurteilungen durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen.

Ich betone diese vermeintliche Selbstverständlichkeit, weil ich vor 1989 im Osten Zeiten erlebt habe, in denen sich ein Staat an eigene Gesetze und internationale Abkommen nicht gebunden fühlte, Zeiten, in denen Papier und Wirklichkeit in einem krassen Widerspruch standen.

Deshalb weiß ich es besonders zu schätzen, dass wir nun neben den nationalen auch den paneuropäischen Gerichtsraum haben. So sinkt die Gefahr, dass Grundrechtsverletzungen unerkannt oder unbeachtet bleiben.

Und wir haben einen gemeinsamen Raum, in dem wir an- und aussprechen können, was uns bewegt. Es bewegte mich zum Beispiel im vergangenen Jahr, als das Anti-Folter-Komitee des Europarates über Misshandlung in europäischen Gefängnissen berichtet hat, und es bewegt mich immer wieder, wenn verabredete Standards Makulatur bleiben, weil Willkür, Korruption und Vertuschung oft stärker sind, als es die mutigen Mahner aus dem Europarat oder aus den vielen Nicht-Regierungsorganisationen sein können.

Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen unermüdlich eingefordert werden, wenn unser Wertekanon nicht an Überzeugungskraft einbüßen und zu einer leeren Hülle werden soll.

Wir brauchen diese Art von Selbstvergewisserung regelmäßig, in jedem Land und ohne dabei von einer Regierung behindert zu werden. Es ist gut, dass die Monitoringberichte des Europarates abgerufen und zitiert werden können und dass die Arbeiten der Venedig-Kommission so rege nachgefragt werden. Das hilft all denen, die sich für die Durchsetzung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten stark machen.

Ich weiß, dass der Europarat wie viele andere Institutionen unter Spardruck steht, aber lassen Sie mich doch eine Mindestforderungen festhalten: An praktischer Hilfestellung zur Umsetzung der Menschenrechte dürfen wir in Europa und in der Welt niemals sparen.

Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt: Jede Politik ist auch Menschenrechtspolitik. Der kalte Krieg liegt glücklicherweise in Europa hinter uns, aber voller Erstaunen und Erschrecken erleben wir – wenngleich ein abgeschwächter Form – die Fortdauer eines alten Konflikts. Schon in den siebziger und in den achtziger Jahren taten sich Deutschland und andere westeuropäische Länder manchmal schwer mit einer offenen Benennung von Menschenrechtsverletzungen im Osten Europas, weil sie damit den angestrebten Wandel durch Annäherung gefährdet sahen.

Inzwischen mussten die kommunistischen Regime weichen. West-, mittel- und osteuropäische Staaten beziehen sich nun auf denselben demokratischen Wertekonsens, aber der Umgang mit Menschenrechten ist gleichwohl manchmal nach wie vor kontrovers.

Erneut wird wie damals von einigen vorgetragen, die Verteidigung von Menschenrechten stünde im Widerspruch zur wirksamen Durchsetzung von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Lassen Sie mich nur so viel dazu anmerken: Das Argument, gute wirtschaftliche Zusammenarbeit würde Kompromisse bei Fragen der Menschenrechte erzwingen, vermag mich heute noch weniger zu überzeugen als damals.

Zu Investitionen entschließt sich eher, wer von Planungssicherheit und einem stabilen Rechtsrahmen ausgehen kann. Zuverlässigkeit ist eine für Geschäfte in aller Welt geschätzte Größe. Im Zeitalter der Globalisierung sind die einzelnen Staaten zudem immer stärker voneinander abhängig. Und die augenblickliche Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen auf dem europäischen Kontinent bestätigt es: Der kritische Diskurs über Menschenrechte muss einem steigenden Handel keineswegs entgegenstehen.

Vor allem aber gilt: Die Staaten des Europarats haben sich auf einen eindeutigen Rahmen ihrer Kooperation verständigt, und das bedeutet – um in der Sprache der Geschäftsleute zu bleiben: Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

Wir wollen und können jene nicht im Stick lassen, die die auf dem Papier akzeptierten Werte auch in der Praxis durchsetzen wollen – in welchem Land auch immer. Für meine Generation hieß das rettende Stichwort damals, zu Zeiten des Kalten Krieges, Helsinki. Für viele Bürgerrechtler heute, besonders in Transformationsgesellschaften, ist es die Europäische Menschenrechtskonvention.

Wenn ein Mitglied des Europarats Regeln verletzt, denen es mit seinem Beitritt doch zugestimmt hat, dann darf das nicht unkommentiert und ungeahndet bleiben. In doppeltem Sinn müssen wir uns dann zur Einmischung berechtigt, ja aufgefordert fühlen: als Europäer aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention; als Weltbürger aufgrund der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Menschenrechte sind universell und unteilbar – die Verantwortung dafür ist es auch.

Im Februar diesen Jahres war ich beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf zu Gast. Als ich den Delegierten aus aller Welt gegenüberstand – einem Publikum mit so unglaublich unterschiedlichen Biografien und Erfahrungen – da wurde mir einmal mehr bewusst, welche große zivilisatorische Leistung nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Menschenrechtskatalogen gelungen ist. Der Blick in tiefste menschliche Abgründe hat uns die Augen für das Wesentliche geöffnet.

Die internationale Gemeinschaft derer, die sich den Menschenrechten verpflichtet haben, ist nicht hauptsächlich aus ideologischen Kämpfen erwachsen, sondern vor allem aus existentiellen Krisen. Wir haben eingesehen: Wo Menschen ihre Rechte verlieren, verlieren sie am Ende alles: unsere gegenseitige Achtung, unsere Würde, unser Leben und unsere Zukunft.

Mögen die Menschenrechte auch in einigen Teilen der Welt so angesehen werden, als wären sie etwas „Westliches“, mögen sie auch in der westlichen Welt zum ersten Mal als Kataloge formuliert worden sein, so haben sie doch Quellen in vielen Erdteilen und ihre Postulate gelten weltweit. Sie sind unser allerwichtigstes globales Gut:

Menschenrechte sind angeboren und unveräußerlich – sie gelten für jede und jeden. Sie beruhen auf der unumstößlichen Tatsache, dass wir Menschen allein aufgrund unseres Menschseins gleich sind, trotz aller kulturellen, religiösen, sozialen oder sonstigen Unterschiede, die es geben mag. Wer Menschenrechte also stärkt, stärkt die Menschheit insgesamt.

Das führt mich zu meinem dritten Punkt: Die Durchsetzung der Menschenrechte ist eine Daueraufgabe!

Mir ist natürlich bewusst, dass bei aller politischen Konsequenz die gesellschaftliche Umsetzung auch Zeit braucht, gerade in Transformationsländern. Diese Länder haben ja teilweise einen ganz anderen politisch-geschichtlichen Hintergrund als die über Jahrzehnte, teilweise über Jahrhunderte gewachsenen Demokratien in Teilen Europas.

Manchmal allerdings steckt im Faktor Zeit auch eine große Überraschung. Das erleben wir schon in Europa, wie rasant der Wandel funktionieren kann; schneller, oft sogar erfolgreicher als lange gedacht. Wenn ich zum Beispiel mit dem polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski darüber rede, was wir uns vor fünfundzwanzig Jahren für Europa erhofft haben und was inzwischen Realität geworden ist, dann gibt es doch gute Gründe, unseren Gesellschaften in Europa mehr Gestaltungskraft zuzutrauen, als manche Politiker es derzeit tun.

Selbstverständlich gilt: Es darf in Europa keine Doppelstandards bei Menschenrechten geben, kein Zweiklassen-Menschenrechtssystem, keine unterschiedliche Behandlung der Mitgliedsstaaten. Der Europarat prüft Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit also in Ost und West gleichermaßen. Der Europarat arbeitet mit der nötigen Differenzierung, aber er besteht auf gleichen Standards für alle. Dafür möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren, ausdrücklich danken!

Eine der vielen Daueraufgaben, die uns aktuell sehr beschäftigt, ist das Engagement gegen Rassismus und Intoleranz. Zu diesem Thema hat der Europarat sogar eine eigene Kommission eingerichtet. Sie entstand schon 1993, als auch in Deutschland zu meinem Erschrecken eine Reihe rassistisch motivierter Ausschreitungen stattfand – unter anderem in meiner eigenen Heimat- und Geburtsstadt Rostock. Es hat mich erschüttert, das zu erleben. Wenig später begann damals die Mordserie einer rechtsextremen Gruppe, deren Aufklärung erst verspätet begann und uns bis heute in Deutschland in Atem hält.

Augenblicklich erleben wir europaweit Diskriminierung und Gewalt, aber in unterschiedlichen, vielfältigen Formen – von Mehrheitsgesellschaften gegenüber Minderheiten, aber auch von Minderheiten gegenüber Mehrheitsgesellschaften oder anderen Minderheiten.

Zu den besonders präsenten Problemen gehört die Ausgrenzung von Sinti und Roma. Ich begrüße es sehr, dass der Europarat dieses aktuelle Beispiel zu seinem Thema gemacht und eine öffentlichkeitswirksame Antwort gegen jede Diskriminierung gefunden hat: „Dosta“ – Genug! Von solchen Kampagnen bräuchten wir mehr!

In Deutschland läuft gerade eine große Plakataktion. Auf einem Bild ist eine bekannte Schauspielerin zu sehen mit dem Text: „Ich bin Muslima, wenn du etwas gegen Muslime hast.“ Und ein prominenter Politiker: „Ich bin schwul, wenn du etwas gegen Schwule hast.“ Vielleicht lassen sich solche Aktionen künftig in allen Mitgliedsstaaten des Europarats koordiniert durchführen: als gemeinsame Lernschritte zu einem gemeinsamen Ziel.

Lernkurven kennzeichnen jeden einzelnen Lebenslauf, aber auch die Entwicklungsgeschichte von Gesellschaften insgesamt. Es stimmt mich zuversichtlich, dass die junge Generation in Mittel- und Osteuropa mit einem neuen Selbstverständnis aufwächst und aus dieser Motivation heraus politische Forderungen stellt.

Einige junge Menschenrechtsaktivisten sitzen heute auf der Besuchertribüne. Sie wissen, was Sie wollen, und Sie wissen, wer Sie neben vielen engagierten Bürgern dabei unterstützen kann: Es ist der Europarat! Die Zivilgesellschaft braucht diesen verlässlichen Referenzpunkt – eine Anlaufstelle, wo sie Gehör finden, Beschwerden einreichen und um Unterstützung bitten kann.

Die Interessen der Zivilgesellschaft sollten wir auch bei den zwei Ländern im Blick haben, die auf unserem Kontinent noch nicht Mitglied des Europarates sind. Ich würde mir wünschen, dass sich die innenpolitische Situation in Belarus so verändert, dass ein Beitritt des Landes ernsthaft diskutiert werden kann - weil die Todesstrafe dort abgeschafft wird, weil politische Gefangene entlassen werden und weil weitgehende demokratische Reformen stattfinden. Wie schön wäre das!

Im Kosovo ist die politische Lage eine andere. Es erfüllt mich mit Zuversicht, dass Kosovo und Serbien zu einer tragfähigen, geradezu historischen Übereinkunft gekommen sind. Wir wissen aber auch aus der Resolution der Parlamentarischen Versammlung, aus Ihrer Arbeit vom Anfang dieses Jahres also, dass im Kosovo weiter Anstrengungen bei der Bekämpfung von Korruption oder des organisierten Verbrechens stattfinden müssen.

Für die weitere Entwicklung des Landes gibt die Integration in die internationale Gemeinschaft wichtige Impulse. Gerade deshalb wünsche ich mir, dass sich alle Staaten im Europarat bereitfänden, Kosovo als Staat anzuerkennen. Auch die Menschen in Belarus und Kosovo haben ein Recht auf Teilhabe am Wertekanon des Europarats und auf gesamteuropäischen Menschenrechtsschutz, beispielsweise durch das Beschwerderecht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Dieser Gerichtshof ist oft die letzte Hoffnung der Verzweifelten und Entrechteten, derjenigen, deren Menschenrechte missachtet und verletzt wurden. Die Zahl der Verfahren dort nimmt ständig zu. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass der Europäische Menschenrechtsgerichtshof reformiert wird, damit er nicht durch die schiere Masse von Verfahren an seinem eigenen Erfolg erstickt. Er muss arbeitsfähig bleiben für all jene, die gegen Menschenrechtsverstöße aufbegehren und viel riskieren, oftmals sogar ihr Leben. Einige von ihnen sitzen heute im Publikum.

Liebe Streiterinnen und Streiter für die Menschenrechte, geschätzte Vertreterinnen und Vertreter europäischer Nichtregierungsorganisationen: Ich möchte Ihnen meine große Anerkennung aussprechen!

Mit einigen von Ihnen werde ich nachher noch persönlich reden können. Aber auch allen anderen, denen, die hier sind, und denen, die gerne hier sein würden, will ich Danke sagen:

Ohne Ihren Mut bestünden manche Versprechen des Europarates nur auf dem Papier. Ohne Ihre vehementen Stimmen könnte die Demokratie nicht überleben. Und ohne Ihre ganz praktische Solidarität auch in Zukunft wird unser gemeinsamer Anspruch an die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte weiterhin nur ein Anspruch, keine erlebte Realität für wirklich jede und jeden sein.

Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns die Humanität verteidigen und den Europarat zum Besten machen, was er sein kann: Im Innenverhältnis eine starke Gemeinschaft in Europa, die trotz aller Unterschiede Zusammenhalt stiften und stärken kann. Und nach Außen ein überzeugendes Beispiel für gelebte Demokratie, verbindliche Rechtsstaatlichkeit und universelle Menschenrechte!

Lord Donald ANDERSON, Vereinigtes Königreich, SOC

Fragen an Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Herr Präsident!

Darf ich im Namen der sozialistischen Gruppe sagen: vielen Dank und willkommen! Sie vertreten mit Ihrem persönlichen Lebenslauf ein sehr positives Beispiel und das Gute in Deutschland. Schade, dass es jetzt bei vielen europäischen Staaten eine negative Wahrnehmung Deutschlands gibt. Zwei Fragen: Sind Sie darüber besorgt und wie kann man das verbessern?

Anne BRASSEUR, Luxemburg, ALDE / ADLE

Fragen an Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Herr Präsident,

Im Namen der liberalen Gruppe möchte ich mich für Ihr Engagement für den Europarat und für Ihre bemerkenswerte Rede recht herzlich bei Ihnen bedanken. Ich möchte Ihnen eine Frage zur Religionsfreiheit stellen: Wir gehören verschiedenen Religionen an, einige unserer Mitglieder gehören auch keiner Religion an. Wie sehen Sie als Bundespräsident, aber auch als Theologe, das Miteinander verschiedener Religionen hier in Europa?

Vielen Dank, Herr Präsident.

Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Antwort

Herr Abgeordneter Volonté,

es ist für mich, wie für ganz besonders viele ältere Europäer, erschreckend, dass es so ein „rollback“ in ein nationales Denken gibt. Natürlich hängt es ganz maßgeblich mit den Finanz- und Währungsschwierigkeiten in der Europäischen Union zusammen, dass diese Freude und dieser Eifer bei der Ausgestaltung eines sich immer mehr vereinigenden Europa z.T. dahin ist.

Dagegen können wir natürlich rationale Gründe einwenden und mit denen, die uns, wie z.B. in Deutschland, als Ökonomen raten, zur DM zurückzukehren und wieder ein Konzept zu errichten, wie wir es vor der Vereinigung der Währungen in Europa lange hatten. Wir können rational argumentieren, dass es sich nicht rechne und schädlich für unsere Wirtschaft sei, aber ich glaube, dass die rationale Debatte nur ein Teil ist.

Die Debatte muss sich beständig mit guten Argumenten nähren, aber vor allem brauchen wir ein stärkeres europäisches Miteinander, gerade angesichts der Tatsache, dass Deutschland von einigen Debattenteilnehmern in verschiedenen Teilen Europas so dargestellt wird, als würde es eine neue herrschende Rolle in Europa suchen. Das ist ganz sicher falsch; es ist nicht so, dass Deutschland das will.

Aber kann mein Land auch jederzeit mit der nötigen Empathie den anderen Mitgliedern in Europa vermitteln, was gerade unsere politische Leitlinie ist? Deshalb brauchen wir eine größere Sensibilität für die Lebenslagen und für die unterschiedlichen politischen Verhältnisse in unterschiedlichen Bereichen Europas.

Wir müssen unsere Verschiedenheit mehr miteinander besprechen, damit wir unsere Gemeinsamkeit stärken können. Und wir werden sie natürlich nicht stärken können, wenn wir ein beliebiges System der Vergewisserung von Europa an den Tag legen. Das heißt, die Intensität, die uns als Mitglieder des Europarates zum Europarat, als Mitglieder der Union in die Union gebracht hat, muss aufrechterhalten werden. Wir brauchen hier Vorbilder, die vorangehen. Sie als Abgeordneter können in Ihrer Region so viel tun wie ich es in meiner Rolle als Präsident tun werde.

Lord Anderson, natürlich wird Deutschland in dieser Situation so wahrgenommen, wie es gelegentlich weltweit Amerika geschieht. Das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich potenteste Land Europas bietet sich geradezu dazu an, wahrgenommen zu werden wie im Grunde ein Deutschland der Vergangenheit, das nicht mehr existiert.

Dieses Deutschland ist nicht das Deutschland von Kaiser Wilhelm, um schlimmere Namen hier zu vermeiden, sondern es ist ein europäisches Deutschland. Und über all die Jahrzehnte hat es eine Kontinuität zur europäischen Idee gegeben. Das müssen wir unseren Partnern in Europa immer wieder klarmachen.

Ich bin also ein wenig besorgt darüber, dass alte Klischees eine schon erlebte politische Wirklichkeit, nämlich Deutschland als ein Land, das Europa will und fördert, und das solidarisch ist, überdecken. Dagegen müssen wir alle etwas tun. Sie tun das in Ihrem Land und ich selber werde viel Energie darangeben, das zu tun, und werde dabei auch zu begreifen haben, dass wir noch viel Übersetzungsarbeit zu leisten haben zwischen den Ländern im Norden Europas, die ein anderes ökonomisches Grundkonzept verfolgen als im Süden.

Da müssen wir stärker aufeinander hören, und selbst, wenn wir meinen, wir hätten in Skandinavien, Deutschland oder Österreich die Art von Wirtschaft und Reformbereitschaft, die nützlich wäre für den ganzen Kontinent, dann muss es uns gelingen, nicht wie ein Oberlehrer aufzutreten gegenüber den anderen, die als unwissende Kinder dastehen. Daran möchte ich mich gerne beteiligen.

Zur dritten Frage: Madame Brasseur, dieses Miteinander werden wir eigentlich besser gestalten können, wenn wir uns selber unserer Werte gewiss sind. Ich habe manchmal den Eindruck, dass besonders jene Bevölkerungsgruppen zu Intoleranz neigen, die selber ihrer eigenen Identität nicht sicher sind. Dann braucht man geradezu die Andersartigkeit des anderen, um den eigenen Wert in den Mittelpunkt zu stellen.

Mir erscheint es manchmal so, dass gerade bei den Menschen, die mit ihrer Religion besonders verbunden sind, auch eine Bereitschaft entsteht: Das, was mir am Herzen liegt, ist etwas anderes als das, was dir am Herzen liegt, aber weil es mir am Herzen liegt, glaube ich, dass ich mit dir ein friedliches Miteinander gestalten muss. Ich muss dir deine Rechte als einem ganz anderen Menschen mitgestalten helfen.

Diese Form von Toleranz ist aus eigenem Wertbewusstsein erwachsen. So können wir zweierlei Strategien anwenden bei der Beachtung von religiöser Toleranz: Wir müssen einmal die Vergewisserung unserer eigenen Werte vorantreiben, und zum anderen dieses Prinzip der Verschiedenheit, auf dem unser Zusammenschluss ja beruht, als etwas Fruchtbares beschreiben. Dann haben wir es auch nicht nötig, uns gegenseitig zu diskriminieren, und vor der Bekämpfung kommt eben der Ansatz, den anderen zu missdeuten und zu diskriminieren. Schon da müssen wir eingreifen.

Maximilian REIMANN, Schweiz, ALDE / ADLE

Fragen an Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Herr Bundespräsident!

Meine Frage ist grundsätzlich identisch mit derjenigen meines italienischen Kollegen Volonté. Auch ich, insbesondere als direkter Nachbar Deutschlands, bin besorgt über diese neuen, widerlichen Anfeindungen gegenüber Deutschland, insbesondere was die Heraufbeschwörung schrecklicher Analogien zu einer längst überwundenen Epoche anbetrifft. Sie haben die Frage bereits beantwortet und ich bedanke mich für Ihre klaren Worte.

Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Antwort

Ich habe in meiner Rede nicht aussparen wollen, dass wir eine wirklich widerliche Erfahrung in Deutschland gemacht haben: dass ausgerechnet von rechtsradikaler Seite eine Gruppe radikaler Mörder vor zehn Jahren Menschen aus niederen Motiven wahllos getötet hat. Neben den von Ihnen genannten Personen, Frau Abgeordnete, wurde auch eine deutsche Polizistin von diesem Trio erschossen.

Wir haben jetzt einen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, den ich auch empfangen habe, der aufgedeckt hat, dass das Manko in Deutschland nicht in der Rechtsordnung liegt, sondern in der schlechten und fehlerhaften Zusammenarbeit der Behörden von Bund und Ländern.

Wir haben ja in Deutschland diese starke Betonung der Länder des Bundes und die Polizei ist jeweils Ländersache. Die Länder haben auch Landesämter für Verfassungsschutz und es hat sich ergeben, dass unsere Abgeordneten, die deutsche Öffentlichkeit und ich gesagt haben, dass Föderalismus so geradezu schädlich ist.

Die erste Konsequenz war die Errichtung einer gemeinsamen Kommission von Bund und Ländern, von der Daten zu dieser Szene gesammelt werden. Nun hat es wiederum eine Nachforschung gegeben, ob diesem rechtsradikalen Terror genügend Aufmerksamkeit in den Behörden gewidmet worden ist. Hier gibt es schon kritische Fragen aus dem politischen Bereich Deutschlands. Es gibt in dieser Frage keine Übereinstimmung, aber eine sehr lebendige Diskussion.

Das sage ich nicht, um sie zu beruhigen. Sie müssen wissen, dass uns Deutsche gerade dieser nationalsozialistische Terror so anwidert, dass wir niemals dulden werden, dass eine solche Bewegung wieder politische Kraft bekommt.

Wir sind uns nicht ganz einig darüber, ob eine bereits existierende rechtsnationalistische Partei verboten werden soll oder nicht. Einige finden das richtig, andere nicht. Ich habe jahrelang die Bürgervereinigung „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ geleitet. Es gibt viele solcher Vereinigungen der aktiven Bürger in Deutschland.

Somit haben wir zweierlei Front gegen diese Extremisten. Einmal ist es der Staat mit seinen Institutionen und seiner Rechtsordnung. Der Prozess läuft jetzt an, steht unmittelbar vor seinem Start. Außerdem gibt es die aktiven Bürger. Immer, wenn sich Rechtsradikale versammeln, sind zehnmal mehr Bürger, Demokraten, auf dem Platz, um gegen diese Rechtsradikalen zu demonstrieren.

Es ist wichtig zu wissen, dass wir sie bekämpfen. Ob das Mittel des Parteienverbots in Deutschland das Mittel der Wahl wird, ist noch strittig, denn zum Teil tauchen die Parteimitglieder dann in kleinere Gruppen und Cliquen ab, die noch schwerer zu verfolgen sind.

Ich muss mich entschuldigen, denn ich habe übersetzungsmäßig nicht alles verstanden, was von der Fraktion der Linken gefragt wurde, aber es wurde eine Frage zu diesem Extremismus gestellt. Wir haben den Extremismus als Bedrohung erkannt und Deutschland geht mit den Extremisten nicht zimperlich um.

In unserem rechtsstaatlichen Rahmen, den wir als Mitglied des Europarates wie der Europäischen Union mit Ihnen gemeinsam haben, bekämpfen wir diese Feinde unserer Demokratie und werden ihnen keinen Spielraum geben. Sie sind nicht im Deutschen Bundestag vertreten und werden auch nicht dorthin gelangen, ganz gleich, ob sie als nationale Partei verboten werden oder nicht.

Ihre Bemerkung zum Euro kann ich aus Übersetzungsgründen nicht richtig einordnen. Ich denke, das hat nichts mit Extremismus zu tun. Ich kann mich jetzt nicht in der Sache äußern, aber wenn Sie wollen, geben Sie mir die Frage noch einmal und ich werde die Gelegenheit nutzen, um schriftlich zu antworten.

Inese LĪBIŅA-EGNERE, Lettland, EPP/CD / PPE/DC

Fragen an Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Herr Bundespräsident!

Deutschland wird nicht nur als Impulsgeber für die Gründung der Europäischen Union, sondern als Impulsgeber für die Grundrechte insgesamt in Europa wahrgenommen.

In Ihrer Rede zu den „Perspektiven der europäischen Idee“ im Schloss Bellevue haben sie dazu aufgerufen, die gemeinsamen Werte Freiheit und Toleranz nicht zu verlieren.

Daher meine Frage an Sie: Wie bewerten Sie Herausforderungen des Europarates auf diesem Weg, insbesondere, weil die EU-Mitgliedsstaaten und auch die Probleme der Eurozone den Europarat mitgestalten?

Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Antwort

Zur Beantwortung der ersten Frage: Ich habe hier in meiner Rede versucht, ein Haupt-Schwergewicht darauf zu legen, dass der Europarat und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Bereich der Menschenrechte gerade für Transformationsländer so eine enorme Wichtigkeit haben und habe dabei auch die spezielle Rolle der EU gewürdigt.

Die größte Aufgabe der Versammlung hier und des Europarates überhaupt sehe ich darin, in diesen Transformationsländern die Tendenz weiterzuverfolgen, über politische Grundwerte nicht nur weiterhin zu streiten, sondern dass bestimmte Normen wirklich einklagbar werden.

Wenn ich vorhin das Wort vom „Haus Europa“ angesprochen habe, dann deshalb, weil ich glaube, dass die Unterzeichnung der Europäischen Konvention und der UN-Konvention für viele noch wie eine Signatur auf einer Projektskizze verstanden wird. Aber in der Tat waren es Vertragsunterzeichnungen für eine schon existierende Rechtswirklichkeit.

Es gilt, diesen Widerspruch kollegial und geduldig mit den Mitgliedern unterschiedlicher Staaten zu besprechen, auch mit den Mitgliedern der Staaten, die um ein wenig Zeit bei der Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips bitten. Hier zu erklären, warum es den Gesellschaften insgesamt dient, wenn die rule of law zu einem unveräußerlichen Prinzip gemacht wird, darin sehe ich einen Schwerpunkt.

Zum Thema der Sprache Englisch: Ich habe meine lieben Deutschen angesprochen. Natürlich hätte ich es gerne, wenn wir uns alle in Europa in Deutsch verständigen könnten, das wäre wunderbar, aber ich bin Realist genug, anzunehmen, dass das – jedenfalls in den nächsten 250 Jahren – nicht der Fall sein wird.

Ich habe also geschaut, welche Sprache von den meisten genutzt wird, wenn sie sich miteinander verständigen wollen. Es ist so, dass sogar die Bewohner aller Ostblockländer, die zwangsweise und frühzeitig immer Russisch lernen mussten, nicht auf ihre spärlichen Russischkenntnisse zurückgreifen, wenn sie sich verständigen wollen. Wenn sich Polen, Tschechen und Ostdeutsche, oder auch Rumänen und Bulgaren treffen, wählen sie Englisch als Kommunikationssprache.

Das hängt damit zusammen, dass Englisch in der Wissenschaft, in der Technologie, im Bankwesen und in der Wirtschaft generell eine bevorzugte Sprache ist. Den frankophonen Ländern gefällt das nicht, das ist mir klar, aber mir erschien es als die einfachste Lösung.

Ich habe das nicht nur gesagt, um die Menschen in Großbritannien aufzufordern, Europa mehr verbunden zu bleiben, sondern aus ganz rationalen Gründen. Und es stand immer eine Bemerkung daneben: Ich wollte unsere deutsche Sprache und Kultur nicht aufgeben. Wir wollen pflegen, was unsere Kultur ist, und wir wollen dennoch bessere Grundlagen für den Diskurs miteinander schaffen.

Nun zu einer Frage, die besonders für viele postkommunistische Länder interessant ist: Viele der Untaten der kommunistischen Herrscher sind verjährt, das lässt sich nicht leugnen. Doch vielleicht müssen Sie darüber nachdenken, dass es auch außerhalb von Gerichten eine Möglichkeit gibt, über Schuld und Verantwortung zu sprechen.

Der große deutsche Philosoph Karl Jaspers hat den Deutschen nach dem Krieg einmal dargestellt, dass wir in verschiedenen Dimensionen über Schuld sprechen: strafrechtliche, moralische, politische und religiöse Verantwortung. In jeder Dimension gibt es eine andere Instanz, Schuld zu bearbeiten. Das Gericht ist nur eine Instanz und Verjährungsfristen, die wir nun einmal haben, sind auch ein liberales Rechtsgut; die würde ich nicht jederzeit zur Disposition stellen.

Das heißt aber nicht, dass es unmöglich sein muss, über politische Verantwortung mit Namen und Adresse zu sprechen und Schuld auch „Schuld“ zu nennen. Die Instanz, die in einem solchen Rahmen Schuldige schuldig nennt, das wäre der öffentliche Diskurs, das sind unsere Wissenschaftler, unsere Medien, der Bürgerdiskurs. Es muss doch möglich sein, einen Diktator „Diktator“ zu nennen, auch wenn es nicht mehr möglich ist, ihn vor Gericht zu stellen. Und es ist möglich, wenn man sich einen erweiterten Schuldbegriff aneignet.

Das wäre vielleicht wichtiger, dass wir in einer öffentlichen Debatte die Menschen delegitimieren, die sich selber delegitimiert haben. Das könnte man zur Entspannung der rechtlichen Debatte vielleicht dazu lernen.

Joachim GAUCK, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Antwort

Es gibt natürlich in ganz Europa, und besonders in den Ländern, die ganz besonders von der Krise gebeutelt werden, ein neues und berechtigtes Hinterfragen der neuen und ungebremsten Finanzmärkte.

Ich habe mich sehr intensiv mit Ökonomen auseinandergesetzt und sie gefragt, ob wir schon von einer Diktatur der Märkte sprechen können; das ist ja eine beliebte Vokabel, die wir immerfort in den verschiedenen Ländern hören - natürlich in bestimmten politischen Gruppierungen mehr als in anderen.

Wenn wir die europäische Wirklichkeit anschauen, dann würde ich so ein Krisenszenario nur z.B. in einer zugespitzten Wahlkampfrede durchgehen lassen, aber als Situationsbeschreibung ist diese so genannte Herrschaft der Märkte über die Politik doch nicht ausreichend. Ich würde von einer Gefährdung sprechen und von einem Kampf darum, dass die Politik Gestaltungsmacht auch in dem Bereich behält, in dem sie nicht handelnd tätig ist.

Als ehemaliger Bewohner des Ostblocks bin ich mir nicht sicher, dass sehr viel staatliches Eingreifen in ökonomische Prozesse mehr zu Wohlstand und Gerechtigkeit führt – das kann ich so nicht sehen. Auch sind Mitverursacher bei vielen Problemen des Finanzmarktes staatliche Institutionen, die sich ihrerseits auf sehr riskante Finanzdeals vorgewagt haben.

Ich halte also wenig davon, die Freiheit der Wirtschaft generell auszuhöhlen. Dagegen halte ich viel davon, rechtliche Rahmen zu entwickeln, die der Wirtschaft die nötige Freiheit geben, aber ihr nicht erlauben, ganze Sozialsysteme auszuhöhlen und zu ruinieren.

Zweitens: Was die Türken in Deutschland betrifft, so sind sie gut organisiert und gut integriert. Dass es in Deutschland diese kleine Gruppe von Mördern gibt, heißt nicht, dass es eine nationalsozialistische Vereinigung gäbe, die wir landauf landab stellen müssten, um sie an Mordabsichten zu hindern.

Es gibt eine relativ kleine Gruppe von unangenehmen, ja schrecklichen nationalsozialistischen Aktivisten, z.T. in einer Partei, z.T. außerhalb der Partei, in vereinsähnlichen Gruppierungen, die uns in Deutschland große Sorgen macht. Aber die Sorgen sind weder in der türkischen Gemeinde, noch in der Gesamtbevölkerung so, dass wir uns fürchten müssten, es würden demnächst Regionen errichtet, wo die normalen Menschen sich fürchten müssten, zu leben!

Auch ist der deutsche Rechtsstaat mit ausreichenden Mitteln ausgestattet, um Terroristen und diese Ideologen, die Rassenhass und Ähnliches predigen, zu bekämpfen. Die deutsche Rechtsordnung befindet sich hier sehr dicht an internationalen Standards, sodass ich die Begrifflichkeit „NS-Organisationen“, die als bedrohlich für eine ganze Bevölkerungsgruppe gelten könne, nicht teile.

Wir als Deutsche sind dabei, das Thema Integration beständig als unser aktuelles nationales Thema zu sehen. Ich selbst beteilige mich daran. Als mein Vorgänger aus seinem Amt schied, habe ich ihm und der deutschen Öffentlichkeit ausdrücklich versprochen, dass das Thema Integration – und das betrifft ja gerade auch unsere türkische Bevölkerung – mir ständig am Herzen liegen werde.

Drittens: Ich wurde gefragt, ob es so etwas wie ein ethisches Gegenmodell zu dieser wirtschaftlichen Dominanz gebe. Ich würde immer auf der Seite derer sein, die nach Maßstäben suchen, um die von mir genannten Rahmenordnungen des wirtschaftlichen Handelns zu definieren. Skeptisch bin ich, wenn ich einen altmodischen Antikapitalismus höre. Dafür sehe ich wenig Zukunftspotenzial.

Wir dürfen nicht, weil im Bereich der Wirtschaft einige Leute Freiheit missbrauchen, die gesamte Freiheit der Ökonomie aus dem Feld schlagen. Wir brauchen freies ökonomisches Handeln. Aber wir brauchen die Achtung derer, die ökonomisch aktiv sind, vor den Regelwerken. Über diese wird ja in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt gestritten.

Da tut es uns ganz gut, uns nach neuen ethischen Ansätzen umzuschauen. Gerade auch in Amerika an den Universitäten und in wissenschaftlichen Publikationen wird eine sehr interessante Debatte geführt, in der das tradierte System (mit dem Motto „wir vertrauen unserer Wirtschaft“) auch ethisch in Frage gestellt wird. Es ist enorm, welche Auflagen Autoren erlangen, die diese Fragen stellen. Wir sehen weltweit also ein Erwachen: Bürgerinnen und Bürger sagen sich, dass sie nicht denen, die wirtschaftlich stark sind, allein das Handeln überlassen dürfen.

Um das Ganze von einem beliebigen antikapitalistischen Diskurs zu befreien, möchte ich, dass wir die Gruppen, die die Arbeitnehmer vertreten, verstärkt in diese Debatte einbeziehen – dass wir sie nicht schwächen, sondern stärken. Es gibt in einigen Ländern Europas eine Tendenz, die gewerkschaftliche Arbeit herabzuwürdigen. Auch haben die Gewerkschaften z.T. Mitgliederprobleme. Da wäre es mir wichtig, dass einer starken Wirtschaft auch starke Gewerkschaften gegenüberstehen.

Ich möchte also nicht nur in einen moralischen Diskurs eintreten, sondern ich will, dass auch die wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer, derer, die am kürzeren Hebel sitzen, von der Politik gewürdigt und gestärkt werden, und dass wir mit unseren Bürgern auch darüber reden, dass sie Akteure sind, nicht nur arme Opfer von irgendwelchen Leuten, die die wirtschaftliche Macht haben.