AL16CR34

AS (2016) CR 34
Provisorische Ausgabe

SITZUNGSPERIODE 2016

________________

(4. Teil)

BERICHT

34. Sitzung

Donnerstag, 13. Oktober 2016, 10.00 Uhr

Doris FIALA, Schweiz, ALDE / ADLE
(Debatte zum Zeitgeschehen: Die Situation in der Türkei vor dem Hintergrund des Putschversuches)

[Englisch] Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren!

Die Hoffnungen waren nicht nur bei den Liberalen groß, als sich Präsident Erdogan noch für Fortschritt und unsere gemeinsamen Werte eingesetzt hat.

Demokratische, rechtstaatliche und menschenrechtliche Hoffnungen prägten über 60 Jahre die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei.

Wir haben zudem gemeinsame geostrategische, wirtschaftspolitische und auch schwerwiegend flüchtlingspolitische Interessen. Das kann aber nicht bedeuten, dass wir uns heute quasi in eine Art Interessensgeiselhaft der Türkei begebend würden.
Bei den großen Herausforderungen rund um das Flüchtlingswesen zolle ich der Türkei meinen Respekt: 3.5 Millionen Flüchtlinge könnte kein Land so einfach bewältigen.

Dass viele Länder des Europarats sich um die gemeinsame Verantwortung in der Flüchtlingsproblematik drücken, ist eine Schande, dass Teile der EU Resettlements nicht umsetzen wollen, ist inakzeptabel.

Im Namen der ALDE-Fraktion möchte ich Ihnen jedoch unseren tiefen Schmerz darüber zum Ausdruck bringen, dass sich die Türkei aufgrund der autokratischen Regierungsführung Präsident Erdogans von unserer gemeinsamen Wertebasis dramatisch entfernt.

Wir möchten zwar auf Sensibilitäten Rücksicht nehmen und Ihnen versichern, dass wir wie Sie überzeugt sind, dass ein Putsch nicht zu friedlichen Strukturen führen kann. Allerdings glauben wir, dass Demokratie dank Demokratie gestärkt werden muss und nicht mit diktatorischen Maßnahmen.

Die Handlungsweise Präsident Erdogans und seiner Verbündeten nach dem Putsch, das Regieren durch Notrecht und per Dekreten, der anhaltende Ausnahmezustand, der bis 15. Januar 2017 verlängert wurde, lehnen wir vehement ab und es erfüllt uns mit größter Sorge zu erfahren, dass die Türkei sich mehr und mehr zu einem autoritären Staat entwickelt und sich sogar als Autoritarismus-Exporteur zeigt, seine im Ausland lebenden Mitbürger einschüchtert und damit auch die Souveränität anderer Länder verletzt, und sich mit einer eigentlichen Säuberungswelle Respekt zu verschaffen sucht.

Wir wünschen den türkischen Kolleginnen und Kollegen die Kraft, den Mut und weises Handeln, in ihrem Land für die gemeinsamen Werte einzustehen. Bitte übermitteln Sie Ihrer Regierung, dass wir Andersartigkeit akzeptieren, aber auf eine Türkei pochen, die offene Zukunftsvisionen formuliert, auf national-religiösen Populismus verzichtet und zu den für uns unverhandelbaren gemeinsamen Werten der Rechtstaatlichkeit zurückkehrt.

Besten Dank.

Axel E. FISCHER, Deutschland, EPP/CD / PPE/DC
(Debatte zum Zeitgeschehen: Die Situation in der Türkei vor dem Hintergrund des Putschversuches)

Herzlichen Dank Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir heute die Debatte führen unter dem Titel „Situation in der Türkei im Licht des gescheiterten Staatsstreiches“, dann müssen wir – wenn wir ehrlich sind – klar sagen, dass wir uns schon vor dem gescheiterten Staatsstreich intensiv mit der Lage der Menschenrechte, der Rechtstaatlichkeit und der Demokratie in der Türkei beschäftigt haben.

Ich möchte nur zwei kurze Stichpunkte nennen, damit wir sie in Erinnerung haben. Wir haben viel darüber diskutiert, in wieweit Medienfreiheit in der Türkei wirklich gegeben ist. Wir haben auch in vielen Gesprächen immer wieder unsere Sorge ausgedrückt, dass weit mehr als 100 Abgeordneten quasi über Nacht die Immunität entzogen wurde. Wir alle als Kolleginnen und Kollegen wissen, ist eine Immunität etwas sehr Wichtiges für Abgeordnete.

Ich bin unserem Generalssekretär und unserem Präsidenten sehr dankbar, dass sie sehr schnell und deutlich gesagt haben, dass der gescheiterte Staatsstreich zu verurteilen ist. Auch Thorbjørn Jagland hat sehr deutlich gesagt, dass hätte dieser Staatsstreich Erfolg gehabt, wäre die Türkei selbstverständlich für eine Weile aus dem Europarat ausgeschlossen worden. Das ist nicht das erste Mal. Wir hatten dies auch mit Griechenland. Das ist eine ganz klare Sache.

Ich bin sehr froh, dass viele Staatschefs Europas ebenfalls deutlich gemacht haben, dass wir als Demokraten eine demokratisch gewählte Regierung unterstützen.

Wir sind das Haus der Demokratie, wir sind aber auch das Haus der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit. Ich habe auf die Probleme schon verwiesen, über die wir auch weiterhin mit den Kolleginnen und Kollegen sowie mit der Regierung der Türkei diskutieren müssen. Da haben wir auch weiterhin ernsthafte Sorge.

Ich glaube, dass nachdem der türkische Außenminister hier war, der ja auch Präsident der Versammlung war, wir sehen sollten, wie die gemeinsame Arbeit vorangetrieben werden kann. Es wurden gemeinsame Arbeitsgruppen gebildet, wo wir von unserer Seite aus deutlich machen können, was wichtig ist.

Es ist wichtig, dass ein Teil des politischen Ausschusses in die Türkei fährt. Dort sollten wir Diskussionen führen und deutlich machen, was wir auch von den Kolleginnen und Kollegen der türkischen Delegation erwarten, dass sie die Werte der Rechtstaatlichkeit und der Menschenrechte ins eigene Parlament und ins eigene Land hineintragen.

Wir werden sehr genau schauen, ob entsprechende rechtstaatliche Verfahren auch bei den zur Zeit Angeklagten durchgeführt werden. Es wäre nicht gut, wenn am Schluss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hier in Straßburg für viele Tausende Verfahren zuständig wäre. Deshalb hoffe ich sehr, dass es in der Türkei entsprechend ordentlich geregelt wird.

Aus diesem Grund bin ich im Augenblick, und ich sage bewusst im Augenblick, strikt dagegen, über ein Monitoring zum Thema Türkei zu reden oder einzurichten. Aber wir sollten im Januar die Situation in der Türkei neu bewerten und dann neu entscheiden.
Herzlichen Dank.

Yves CRUCHTEN, Luxemburg, SOC
(Debatte zum Zeitgeschehen: Die Situation in der Türkei vor dem Hintergrund des Putschversuches)

Danke Frau Vorsitzende!

Seit nunmehr zwei Jahren bin ich Mitglied in diesem ehrenwerten Haus. Aus meiner anfänglichen Begeisterung mit der ich dieses Amt antrat, wurde aber inzwischen Ernüchterung.

Es tut mir leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ich habe kein Verständnis dafür, dass wir diese Woche weder Resolution, weder Bericht und auch keine Empfehlung zur aktuellen kritischen Lage in der Türkei verabschieden.

Anstatt die Probleme beim Schopf zu packen und uns konsequent für den Erhalt des Rechtstaats in der Türkei einzusetzen mit den wenigen Mitteln die uns zur Verfügung stehen, halten wir jetzt bloß eine Aktualitätsdebatte ab. Eine Debatte der wohl kaum mehr Bedeutung zukommt als ein Rundtischgespräch spät abends im Fernsehen.

Wir machen uns damit selbst klein. Wir machen aus diesem Haus einen Debattierclub, einen Debattierclub der Entscheidungen scheut.

Wer soll uns denn fortan ernst nehmen, wenn wir selbst, die Verfechter des Rechtstaats, der Demokratie und der Menschenrechte, bei so einschneidenden Verletzungen wie sie zurzeit in der Türkei geschehen, kneifen?

Lassen Sie mich eins klarstellen: Der Putschversuch durch das türkische Militär muss auf Schärfste verurteilt werden, auch und besonders von diesem Parlament. Der türkischen Bevölkerung gebührt unsere tiefste Anerkennung, unser Respekt und unsere Dankbarkeit, denn es war sie, es waren die Menschen, die unter Lebensgefahr auf die Straße gingen, die den Militärputsch vereitelten. Viele haben diesen Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Ihnen gilt unsere besondere Bewunderung und wir trauern mit ihren Verbliebenen.

Die Türkei kann stolz auf sich sein!

Doch so heftig wir den Militärputsch auch verurteilen müssen, so müssen wir mindestens mit derselben Überzeugung auch die Geschehnisse nach dem Putschversuch verurteilen.

Die türkische Politik denkt laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nach. Mehr als 100.000 Lehrer, Professoren, Richter, Polizisten und andere Staatsdiener wurden in den Tagen nach dem Putsch suspendiert oder verhaftet. 125 freie Journalisten wurden inhaftiert. Das Ganze nicht auf Basis von Indizien, wie es sich in einem Rechtstaat gehört, sondern auf Basis von Listen! Listen die aufgestellt wurden mit Menschen, die unter bloßem Verdacht stehen, in irgendeiner Form zur Gülen-Gruppe zu gehören.

Es wundert mich, dass unserem Präsidenten in seiner Einführungsrede an Herrn Çavuşoğlu gestern kein einziges Wort davon über die Lippen gegangen ist.

Schon vor den Juli-Ereignissen haben wir hier im Haus den Umgang mit der oppositionellen HDP-Partei kritisiert. Inzwischen wurden viele Abgeordnete und Bürgermeister dieser Partei mundtot gemacht, eingelocht oder abgesetzt!
Uns Außenstehenden drängt sich immer mehr der Verdacht auf, dass sich die Türkei weg von einer Demokratie und hin zum Absolutismus bewegt.

Und wir? Wir die parlamentarische Versammlung des Europarats, wir die Verfechter der Demokratie wir behandeln dies unter „current affairs" also gewöhnliche, gängige Angelegenheiten? Sind denn diese Geschehnisse bloß noch eine Banalität für den Europarat?
Es wäre dringend, dass wir uns mit unseren Kollegen aus der Türkei zusammensetzen und Tacheles reden, damit die Türkei eine Demokratie und ein Rechtstaat bleibt!

Roland Rino BÜCHEL, Schweiz, ADLE / ALDE
(Debatte zum Zeitgeschehen: Die Situation in der Türkei vor dem Hintergrund des Putschversuches)

Herr Präsident,
geschätzte Kolleginnen und Kollegen!

Der Putschversuch in der Türkei von Mitte Juli wurde in der letzten Stunde von vielen Kollegen aufs Schärfste verurteilt. Auch ich drücke meine Solidarität mit den Opfern und deren Familien aus, ohne dabei die demokratisch gewählten Institutionen der Türkei auszuschließen.

Der Europarat ist eine unabdingbare Plattform für eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Türkei geworden. Auf der Basis seiner Werte hat er sich zum privilegierten Gesprächspartner der Türkei entwickelt. Dabei habe ich die Bekundungen und den Willen der Türkei zur Kenntnis genommen, bei der Bewältigung des Putschversuchs die geschützten Grundrechte der Betroffenen zu wahren.

Auch bei der Bekämpfung des Terrorismus ist der Verhältnismäßigkeit und der Legalität Rechnung zu tragen. Diese Prinzipien stellen die Grundlage der Rechtstaatlichkeit und Demokratie in den Mitgliedsstaaten des Europarates dar. Darum begrüße ich die enge und intensive Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Europarat auf Expertenebene.

Dies gesagt, bin ich aber zunehmend beunruhigt über die Informationen zur aktuellen Lage; die uns aus der Türkei erreichen: massenhafte Entlassungen und Inhaftierungen von Richtern, Polizisten, Lehrern, Professoren und Journalisten – unser kanadischer Kollege hat dies schon angesprochen.

Ich bin der Ansicht, dass die Ausnahmedekrete unverhältnismäßig sind. Sie werden auch auf Personen angewendet, die vielleicht einen vagen Bezug zu den Verantwortlichen des Putschversuchs haben könnten.

Dazu stelle ich zwei Fragen: Ist die Verlängerung des Ausnahmezustands wirklich eine unabdingbare Notwendigkeit zum Schutz der Institutionen? Sind die nicht klar umrissenen und breit gefassten Dekrete tatsächlich verhältnismäßig?

Ich bin mir bewusst, dass wir vor einer endgültigen Bewertung dieser Maßnahmen die Berichte der unabhängigen Institutionen des Europarates abwarten müssen. Aufgrund ihrer Einschätzungen werden wir uns ein genaues Bild der Situation vor Ort machen können.

Abschließend fordere ich die Türkei auf, bei der Bewältigung des Putschversuchs sowie bei der Bekämpfung des Terrorismus Augenmaß zu wahren und die in der EMRK verankerten Menschenrechte und rechtstaatlichen Garantien voll und ganz zu respektieren.

Offenbar sind bereits Tausende von Klagen bei türkischen Gerichten eingegangen. Deshalb ist es im Interesse der Türkei und auch des Europarates, eine Flut von Gerichtsfällen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verhindern.

Dies kann am besten durch eine strikte Beachtung der Europäischen Menschenrechtskommission erreicht werden.

Vielen Dank.

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland

Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

Vielen Dank, dass Sie mich heute hierher zum Europarat nach Straßburg eingeladen haben. Ich darf Ihnen versichern, dass es mir nicht nur eine Freude, sondern auch eine Ehre ist, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf.

Als deutscher Außenminister komme ich ganz besonders gerne nach Straßburg, denn in Straßburg ist mit den Händen zu greifen, dass Krieg einhegt werden kann durch Recht, durch Verständigung, durch den Schutz individueller Freiheit.

Wenn man, wie ich es heute Morgen ganz kurz tun durfte, durch die Straßen und Gassen dieser Stadt geht, dann mag man es eben kaum glauben, dass Straßburg vor gar nicht allzu langer Zeit im Zentrum der deutsch-französischen Konflikte des 19. Jahrhunderts und der furchtbaren Weltkriege des 20. Jahrhunderts stand. Es ist und bleibt ein Wunder, dass ein deutscher Außenminister hier im Europarat in Straßburg als Partner unter Partnern unter dem Dach gemeinsamer Werte auftreten kann.

Keine Sorge liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin am Ende meiner historischen Ausführungen. Wir haben in der Tat genügend aktuelle Probleme, über die es heute zu reden und anschließend zu diskutieren gilt.

Dennoch kann uns der Blick zurück, gerade hier Straßburg, helfen, die Strukturen zu verstehen, die entscheidend waren, die europäische Friedensordnung über die letzten sieben Jahrzehnte hin entstehen zu lassen.

Dies ist umso wichtiger, da wir in einer Zeit leben, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint und in der mühsam erkämpfte Ordnungen zu zerfallen drohen: Kriege und Konflikte rings um Europa, die Infragestellung der europäischen Friedensordnung durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland, Fliehkräfte, die am Zusammenhalt selbst der Europäischen Union zerren, zuletzt mit dem Paukenschlag des britischen Referendums, des Brexits, und nicht zuletzt wachsende Spannungen, sogar Spaltungen auch im Inneren unserer Gesellschaften in vielen Ihrer Heimatländer, auch in meinem Land, Deutschland.

Welche Antworten finden wir auf die Frage, was eine stabile Friedensordnung entstehen lässt? Ein Teil der Antwort liegt bereits in den Begriff Friedensordnung: Frieden durch Ordnung. Frieden, indem die Welt sich selbst Regeln setzt, Frieden indem wir auf die Stärke des Rechts, statt auf das Recht des Stärkeren setzen. Damit meine ich die Idee einer multilateralen völkerrechtsbasierten Ordnung, aber ich meine eben nicht nur einer Ordnung, die Beziehungen zwischen Staaten regelt – das greift zu kurz –, denn wenn wir wirklich Ordnungsstrukturen aufbauen wollen, die widerstandsfähig  und im Inneren stabil sind, weil Spannungen friedlich ausgeglichen, weil die Lösungen durch eine pluralistische, offene Diskussion gefunden werden können, dann kommen wir eben nicht umhin, uns auch  mit der inneren Verfasstheit von Gesellschaften zu beschäftigen, konkret also auch mit der Lage der Menschenrechte.

Menschenrechtsverletzungen sind nicht nur Folge von Krieg und Konflikt; Verletzungen und Einschränkungen elementarer Rechte sind viel zu oft nicht ihre Folge, sondern ihre Ursache. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Menschenrechte sind für uns kein beliebig einsetzbares Instrument auf dem Weg zum Frieden? Sie sind vielmehr das Fundament, auf das eine funktionierende internationale Ordnung gebaut sein muss.

Die Errungenschaft der Menschenrechte, die die Staaten dieses Europarates sich gemeinsam gegeben haben, sollte für uns und für alle Mitglieder dieses Rates nicht verhandelbar sein und so bleiben.

In allen Konflikten, die weltweit herrschen und die schwierige diplomatische Arbeit und beharrliche Vermittlung erfordern, müssen wir immer wieder deutlich sagen, dass das Eintreten für Menschenrechte nicht im Widerspruch zum Ziel außenpolitischer Stabilität und zum Interessenausgleich zwischen Staaten steht. Im Gegenteil, sie bedingen einander.

Deshalb müssen wir eben genau hinschauen, müssen uns die Instrumente geben, die es erlauben, mit einer feinen Sensorik den menschenrechtlichen Puls eines Staates und einer Gesellschaft zu fühlen, und dies so frühzeitig und kontinuierlich wie möglich.

Deshalb ist der Europarat so wichtig, denn er gibt 47 Mitgliedsstaaten und sage und schreibe 800 Millionen Menschen ein menschenrechtliches Fundament, einen gemeinsamen verbindlichen Kanon und er öffnet einen Blick auf die Menschenrechtslage in unseren Ländern. Er schaut sozusagen hinter die Kulissen.

Deshalb ist meine Botschaft an Sie heute: Der Europarat ist nicht nur Wächter einer normativen Ordnung, er ist in Krisenzeiten eben auch ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung dieser Ordnung. Am Beispiel Türkei hat der Europarat diese Funktion gerade eindrücklich unter Beweis gestellt und auf diesem Weg möchte ich diesem Haus heute auch Mut zusprechen.

Die deutschen Kolleginnen und Kollegen unter Ihnen wissen, ich bin Jurist und deshalb, aber vielleicht nicht nur deshalb, auch Realist.  Wo es Regeln und Gesetze gibt, gibt es auch immer Übertretungen derselben. Daher überraschen mich Regelverletzungen nicht, ich gebe aber allerdings zu, dass allein 76.000 Klagen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anhängig sind und diese Zahl hat mich mehr als beeindruckt.

Doch durch Verletzungen allein, so dringend ihre rechtliche Aufarbeitung ist, wird ein gemeinsamer Ordnungsrahmen, wird weder der Europarat noch die Europäische Menschenrechtskonvents infrage gestellt. Gerade dadurch, dass ich es diese gemeinsamen Normen gibt, werden Verletzungen erst sichtbar und identifizierbar.

Ich sag Ihnen ganz offen: Wir müssen in Europa und uns als Partner in diesem Europarat sehr selbstkritisch fragen, ob wir genug tun, um dieses einzigartige völkerrechtlich verbindliche Schutzsystem zu pflegen und wo möglich auszubauen, ob wir genug tun, um dauerhafte Schäden an diesem System abzuwenden.

Denn nüchtern betrachtet, ist es doch so, dass in Teilen Europas die Werte und Standards des Europarats, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit, heute unter erheblichem Druck stehen, und dass, im Übrigen, weit über den Einzelfall hinaus.

Generalsekretär Thorbjørn Jagland hat vor einigen Monaten seinen Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte in Europa vorgelegt und es ist ein sehr hilfreiches, leider aber auch sehr bezeichnendes Dokument, weil es die strukturellen Defizite deutlich benennt, die geeignet sind, unser gemeinsames Fundament hier in Europarat zu untergraben.

Beispielsweise werden Meinungs- und Versammlungsfreiheit heute in einigen Mitgliedsstaaten ganz massiv infrage gestellt: die kritische Zivilgesellschaft wird zuweilen diffamiert oder eingeschüchtert, es werden Minderheiten in der Ausübung ihrer Rechte beschnitten, Kritiker und Oppositionelle werden in einigen Ländern regelmäßig mit fragwürdigen Anschuldigungen überzogen und können mangels unabhängiger Justiz nicht auf faire Gerichtsverfahren vertrauen. In einigen Ländern werden demokratische Spielregeln, insbesondere bei Wahlen, weiterhin nur unzureichend respektiert.

Große Sorge bereitet mir auch, dass eine ganze Reihe von Mitgliedsstaaten bereits seit Jahren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht oder nicht hinreichend umsetzen. Viele der bestehenden Probleme, wären längst gelöst, wenn die Urteile konsequent umgesetzt würden, wie es Art. 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention tatsächlich vorschreibt.

Wenn ich von den Krisen unserer Tage spreche, dann meine ich auch den Konflikt in der Ukraine. Wer von Ihnen hätte sich vorstellen können, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein europäisches Land einen Teil seines Staatsgebietes völkerrechtswidrig von einem anderen Staat annektiert sehen würde?

Wer hätte sich vorstellen können, dass die Frage von Krieg und Frieden im Ukrainekonflikt zurück auf die europäische Tagesordnung kommt?

Auf die Annexion der Krim und den von Russland militärisch unterfütterten Konflikt in der Ostukraine haben wir in der Europäischen Union und auch in der NATO entschlossen reagiert.

Deutschland hat darüber hinaus in diesen wahrhaft turbulenten Zeiten den OSZE-Vorsitz übernommen.  Wir arbeiten darüber hinaus im Normandie-Format mit Frankreich, Russland und der Ukraine am Weg zu einer politischen Lösung für die Ostukraine, so wie in den Minsker Vereinbarungen festgelegt ist.

Ich weiß, dass der Europarat nicht als schnelle Eingreiftruppe für das operative Krisenmanagement konzipiert worden ist, aber ich finde gerade in der Ukrainekrise zeigt sich, dass er den Verwerfungen in Europa eben auch nicht hilflos gegenüberstehen muss, dass er über durchaus wirkungsvolle Instrumente verfügt. Dazu zählt zum Beispiel die ausgezeichnete Arbeit der Venedig-Kommission, dazu zählen auch die Anti-Folter-Kommission und die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz. Auch der Menschenrechtskommissar des Europarates ist zu nennen, dessen Arbeit ich hier ausdrücklich würdigen möchte.

Ich begrüße daher sehr, dass sich auch der Europarat in der Ukraine weiterhin stark engagiert. Die Beratung durch die Venedig-Kommission hat sich als ausgesprochen wichtig erwiesen. Der Ukraine-Aktionsplan des Europarates trägt dazu bei, die demokratische Transformation in der Ukraine voranzubringen.

Auch deshalb unterstütze ich alle Bemühungen des Europarates, regelmäßig Zugang zur Krim für die Monitoring-Gremien zu erwirken, um auch dort die Menschenrechtslage vor Ort beobachten zu können. Das trifft nicht nur für die Krim, sondern auch für die Gebiete Südossetien, Abchasien, Transnistrien und Berg-Karabach zu. Auf unserem Kontinent darf es keine weißen Flecken für die Beobachtung der Menschenrechtslage geben.

Dieser Ort hier, die parlamentarische Versammlung ist seit jeher der Ort im Europarat, an dem die politische Debatte zu den drängenden Fragen unserer Zeit stattfindet. Hier werden zuweilen heftige Kontroversen ausgetragen und hier gehören sie hin, gerade auch in den Zeiten größer werdender Konflikte und stärkerer Spannungen.

Im Hinblick auf Russland hoffe ich, dass wir im Zuge unserer Bemühungen um die Befriedigung des Ukrainekonfliktes hoffentlich mittelfristig Bedingungen herstellen, dass die russischen Delegierten wieder an den Sitzungen und der Arbeit der Versammlung teilnehmen können. Klar ist aber, dass vor allem Russland seinen Beitrag dazu leisten muss.

Gerade für ein gemeinsames Forum wie die parlamentarische Versammlung des Europarates ist es nicht nur wichtig, dass es gemeinsame Spielregeln für die parlamentarische Versammlung gibt. Es ist mindestens genauso so wichtig, dass sich alle Mitglieder daran halten.

Gerade in diesem Hause hier darf man den Regelbruch nicht ignorieren und die parlamentarische Versammlung hat in der Vergangenheit mit Suspendierung von Rechten für die russische Delegation reagiert.

Das bedeutet in meinen Augen aber auch, dass wir jetzt, nach den Duma-Wahlen in Russland, Abgeordnete, die auf dem Gebiet der völkerrechtswidrig annektierten Krim in die Duma gewählt wurden, nicht als Vertreter Russlands akzeptieren können. Das sollten wir gemeinsam klarstellen und ich gehe davon aus, dass wir dazu auch in der Europäischen Union eine unzweideutige gemeinsame Regelung finden, denn Dialog und parlamentarische Verständigung sind wichtig und sinnvoll, sind erforderlich, aber sie muss auf dem Fundament gemeinsamer Grundwerte und der Satzung des Europarates stattfinden.

Entsetzt und erschüttert hat uns der blutige Putschversuch in der Türkei, der zum Glück schnell gescheitert ist. Es war ein unerhörter Angriff auf die Verfassungsinstitutionen des Landes. Wir trauern mit den Angehörigen derjenigen, die bei diesem Putschversuch ihr Leben verloren haben und wir haben großen Respekt vor einer mutigen Zivilgesellschaft, die diesen Angriff auf die Verfassungsinstitutionen zurückgewiesen hat.

Es ist erforderlich und nicht nur legitim, dass dieser Putschversuch in der Türkei sowohl politisch als auch rechtlich und strafrechtlich aufgearbeitet wird. Als Parlamentarier erwarten wir aber auch zugleich –  und wie ich höre, haben das auch türkische Abgeordnete hier Europarat bekräftigt –, dass diese Aufarbeitung unter Beachtung rechtstaatlicher Standards erfolgt, die zu den gemeinsamen Überzeugungen der im Europarat versammelten Staaten gehören sollten.

Ich will dem Europarat ausdrücklich meinen Respekt für die Rolle zollen, die er in dieser schwierigen Situation in und mit der Türkei gespielt hat und aus meiner Sicht dringend weiterspielen muss.

Generalsekretär Jagland war einer der ersten, der vor Ort war und den Putschversuch verurteilt, zugleich Gesprächsfäden geknüpft und Unterstützung bei der von mir eben angesprochenen Aufarbeitung angeboten hat.  Ich denke auch an den Ad-Hoc-Besuch der Anti-Folter-Kommission und begrüße auch, dass die Türkei dieses Angebot der Zusammenarbeit angenommen hat und dass dies gestern vom türkischen Außenminister hier an dieser Stelle vor der parlamentarischen Versammlung noch einmal bekräftigt worden ist.

Es ist nun wichtig, dass der Europarat diese Arbeit in und mit der Türkei jetzt wirkungsvoll fortsetzen kann und die Türkei entsprechend den Zusicherungen kooperiert.

Sie sehen, in diesen unruhigen Zeiten, diesen Zeiten des Umbruchs hat die parlamentarische Versammlung eine wichtige und zentrale Rolle. Und wenn das so ist, dann braucht diese Institution einen klugen und engagierten parlamentarischen Nachwuchs. In Zeiten, in denen internationale Politik so präsent und so sichtbar ist wie seit vielen Jahren nicht, müssen doch internationale parlamentarische Foren die besten und die vielversprechendsten Nachwuchsabgeordneten aus den nationalen Parlamenten nur so anziehen.

Ich sage das deshalb, weil ich selbst vier jahrelang Vorsitzender einer Parlamentsfraktion war –  die SPD- Kollegen erinnern sich daran – und ich habe mich schon damals für den internationalen parlamentarischen Nachwuchs engagiert und es ist mir immer noch wichtig, gerade in dieser Welt, mit so viel Gefahren um uns herum.

Lassen Sie mich diesen Appell ganz ans Ende meiner Rede stellen: Kümmern Sie sich bitte auch um den außenpolitischen Nachwuchs unserer Demokratie, fördern Sie ihn, machen Sie ihn auf die in diesem Hause geleistete Arbeit aufmerksam. Diese krisengebeutelte Welt braucht solchen Nachwuchs und solche kostbaren Institutionen wie die parlamentarische Versammlung des Europarats.

Vielen Dank.

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Volodymyr ARIEV, Ukraine, PPE/DC / EPP/CD)

Herzlichen Dank für diese Frage, die sich mit unterschiedlichen Aspekten und mit der Rolle Russlands befasst. Ich will zunächst zum Thema Ukraine sagen, dass wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in der Situation befinden, um über die Durchführung der Wahlen reden zu können. Wie ich eben in meiner Rede gesagt habe, glaube ich, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine wirkliche Alternative zum Minsker Abkommen haben. Daher arbeite ich als Mitglied der deutschen Bundesregierung sowie als OSZE-Vorsitzender daran, dass wir trotz aller damit verbundenen Mühsamkeiten daran arbeiten, einzelne Elemente dieses Minsker Abkommens umzusetzen.

Dazu gehört, dass wir versuchen einen Waffenstillstand, der vereinbart und immer wieder gebrochen wurde, zu stabilisieren. Sie haben vielleicht gesehen, dass wir in der vorvergangenen Woche ein sogenanntes Disengagement-Abkommen zunächst in drei Modellregionen längs der Konfrontationslinie geschlossen haben, dass, falls es umgesetzt wird, hoffentlich hilft, den Waffenstillstand zu stabilisieren.

Schwierig, aber noch schwieriger ist die Arbeit am politischen Paket, in dem drei Gesetzgebungsprojekte enthalten sind: das Sonderstatusgesetz, das Amnistiegesetz und das Lokalwahlgesetz. Wir ringen darum, die unterschiedlichen Positionen zu überbrücken. Das ist uns bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gelungen. Aber ich glaube, dass es sich lohnt daran zu arbeiten. Wir tun dies mit großer Intensität unter viel Einsatz von Kraft und Zeit. Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, uns zu einem Gesetz zu verständigen. Wenn das Gesetz vereinbart ist, dann müssen wir Sicherheitsbedingungen schaffen, unter denen Wahlen stattfinden können. Das wird uns ebenfalls viel Arbeit und Überzeugungsarbeit abverlangen.

Insofern haben Sie recht mit Ihrer Frage: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir diese Bedingungen noch nicht. Dennoch sollten wir daran arbeiten, dass wir sie in Zukunft schaffen.

Mit Blick auf die Lage in Syrien und insbesondere Aleppo, denke ich, dass sich unsere Standpunkte hier in diesem Hause bei der Verurteilung der Bombardements und Angriffe, die es insbesondere auf die Zivilbevölkerung in Ost-Aleppo gegeben hat, nicht unterscheiden.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen liegt erst wenige Tage hinter uns. Wir hatten am Beginn der Versammlungswoche einige Gründe für die Hoffnung, dass es zur Unterzeichnung einer Waffenstillstandsvereinbarung kommen würde. Das war aber leider nicht der Fall, im Gegenteil. Die Basis für das gemeinsame Verständnis, die Waffen zum Schweigen zu bringen ist eher in den Tagen danach erodiert. Sie haben gesehen, es sollen jetzt am Wochenende in Lausanne neue Gespräche stattfinden. Wir müssen hoffen und darauf setzen, dass wir weiter als in New York kommen. Ich habe öffentlich in meinen Reden in Deutschland gesagt, dass es hier nicht nur um die Frage der Beendigung eines Krieges geht – das ist Notwendig, das ist eine politische Pflicht für uns alle – aber auch um die moralische Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern. Wir müssen das Morden und das Sterben in Aleppo und in Syrien beenden.

Stefan SCHENNACH, Österreich, SOC / SOC
(Fragen an Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland)

Sehr geehrter Außenminister!

Die deutsche Ostpolitik der siebziger Jahre brachte Europa Frieden und überbrückte den Kalten Krieg. Heute stecken wir in einer Sackgasse von Sanktionen, Boykotts und Gegenboykotts. Sehen Sie Auswege?

Wie wichtig halten Sie es, dass durch die Mitwirkung der russischen Föderation am Ministerrat des Europarates, der Weg für die russische Bevölkerung zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nach wie vor offenbleibt?

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Stefan SCHENNACH, Österreich, SOC / SOC)

Ich habe in meiner Rede gesagt, dass wir daran arbeiten müssen, die Bedingungen wiederherzustellen, damit die russische Delegation die suspendierten Rechte wieder wahrnehmen kann. Das liegt nicht vornehmlich bei uns, sondern dazu bedarf es vor allem Beiträge von russischer Seite. Wir haben in der ersten Frage über den Ukraine-Konflikt gesprochen und hier kann Russland viel dazu beitragen, dass dieser Konflikt nicht nur beruhigt, sondern hoffentlich auch gelöst wird.

Im Übrigen gehöre ich in der Tat zu denjenigen, die mit einem realistischen Blick auf die aktuelle Welt nicht ignorieren können, dass die Gräben zwischen Ost und West auch gegenüber Russland tiefer geworden sind.

Die Frage ist, welche Schlüsse man daraus zieht. Da gibt es in der Politik und auch in der deutschen Politik ganz unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube, man muss einerseits klar benennen, wo Unrecht und wo Verfehlungen stattfinden und andererseits sich gleichwohl bemühen, dies nicht in einer Politik von Containment und Isolation enden zu lassen.

Insofern stehen wir gegenwärtig vor einer nicht ganz einfachen Herausforderung. Ich habe mich in meinem Vorsitz in der OSZE im gesamten laufenden Jahr bemüht, in Situationen, in denen das Gespräch völlig abgebrochen wurde dafür zu sorgen, dass dieses auch unter schwierigen Bedingungen aufrecht erhalten bleibt.

Die Erinnerung an die Entspannungspolitik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre ist sicher richtig. Die Welt, in der wir uns heute befinden ist aber eine andere. Sie ist nicht nur eine andere mit Blick auf uns selbst und auf Russland, sondern wir leben nicht mehr in der Welt, in der sich die Staatenwelt entweder nach Moskau oder nach Washington orientiert. Sie ist nicht mehr zweigeteilt, sondern hat eine Vielzahl von Akteuren, wodurch die Lösung von Konflikten heute eben auch am Beispiel Syriens viel komplizierter ist. Es müssen eine Menge von Akteuren einbezogen werden, um an großen Tischen Lösungen zu erarbeiten, die früher vielleicht in zwei Hauptstädten gefunden wurden. Diese Bedingungen existieren heute nicht mehr.

Insofern ist auch der häufige Verweis, dass wir wieder in einen Kalten Krieg zurückfallen aus meiner Sicht nicht richtig. Die Welt, in der wir jetzt leben, lässt die Vorstellung einer Zweiteilung, in der bei Konflikten zwei Hauptstädte das Weltgeschehen dominieren aber auch beruhigen können nicht mehr zu, denn die Welt ist heute anders als in den siebziger Jahren.

Anne BRASSEUR, Luxemburg, ADLE / ALDE
(Fragen an Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland)

Herr Minister.

In vielen Mitgliedsländern wird zurzeit der Rechtsstaat regelrecht ausgehebelt, indem – wie Sie es auch angesprochen haben – die Entscheidungen vom Europäischen Gerichtshof für Menschrechte nicht beachtet werden, indem rechtsstaatliche Prinzipien einfach außer Acht gelassen werden und indem die Populisten mit einer von ihnen betriebenen Politik der Angst und des Hasses auf dem Vormarsch sind. Ich glaube angesichts dieser Tatsache ist der Europarat wichtiger denn je und Sie haben es angesprochen: Können Sie Ihre Ministerkollegen im Ministerkommitee davon überzeugen, nicht nur Grundsatzdebatten zu führen aber auch mehr Mittel dem Europarat zur Verfügung zu stellen?

Vielen Dank.

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Anne BRASSEUR, Luxemburg, ADLE / ALDE)

Ich kann Ihnen nur zustimmen. Ich glaube, es gehört zur gemeinsamen Basis des Europarates, dass die hier vertretenen Mitgliedstaaten die Regeln anerkennen. Das kann nicht nur ein situatives Anerkennen sein, sondern das gilt auch dann, wenn wir uns in einer Konfliktsituation befinden. Das sind wir häufig dann, wenn Fälle vor den Gerichtshof kommen. Deshalb gehört für mich – und dem habe ich eben in meiner Rede versucht Ausdruck zu verleihen –  die Anerkennung und die Bereitschaft Urteile umzusetzen zur Basis eines gemeinsamen Verständnisses hier im Europarat. Selbstverständlich werben wir mit dieser Position auch gegenüber anderen Regierungen, deren Staaten hier im Europarat vertreten sind.

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Mark PRITCHARD, Vereinigtes Königreich, CE / EC)

Was Ihre erste Frage angeht, kann ich ganz kurz antworten und sagen „Strong“. Bezüglich der Frage zu Georgien: Wenn Sie Ihre Kollegen aus Georgien zum Beispiel hier im Europarat oder im georgischen Parlament fragen würden, dann würden Sie dort hören, wie sehr wir den Weg zu Reformen in Georgien unterstützt haben. Ich selbst war viele Male dort, auch zuletzt noch einmal vier Wochen vor den Wahlen. Wir haben uns um einen Kompromiss zur Visaliberalisierung bemüht. In den Gesprächen, die wir zuletzt im Europäischen Außenministerrat gemeinsam mit den Innenministern der Länder hatten, ist es zu einem solchen Kompromiss gekommen. Insofern sehe ich uns gegenüber Georgien in einer sehr konstruktiven Haltung, die nach all meiner Erfahrung – ich habe vorgestern zuletzt mit dem Ministerpräsidenten gesprochen – auch in Georgien gewürdigt wird.

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Nikolaj VILLUMSEN, Dänemark, GUE / UEL)

Beides kann ich bejahen, Herr Abgeordneter.

Ich habe es eben auch dem Präsidenten der parlamentarischen Versammlung und davor dem Generalsekretär gesagt. Natürlich unterstütze ich den Wunsch und den Vorschlag zu einem Gipfeltreffen im Jahre 2019 zusammenzukommen. Ich freue mich, dass Präsident Hollande hier dementsprechende Vorschläge nicht nur gestützt, sondern auch ausdrücklich selbst gemacht hat.

Das bringt mich auch zur Antwort auf die zweite Frage nach der Rolle des Europarates und der Parlamentarischen Versammlung. Ich glaube, wir haben in der Vergangenheit, soweit ich zurückdenken kann – Sie wissen, dies ist meine zweite Amtsperiode als Außenminister, wobei die erste zwischen 2005 und 2009 lag – haben wir nie in diesen letzten 10-15 Jahren eine so enge und intensive Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und dem Europarat gehabt. Das zeigt sich gerade in Fragen, die ich in meiner Rede angesprochen habe, wie in einer kritischen Situation in der Türkei. Ich war dankbar und habe all meinen Respekt davor, dass der Europarat in dieser kritischen Situation sich dort gezeigt und angemessen reagiert hat. 

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Lütfiye İlksen, CERİTOĞLU KURT, Türkei, CE / EC, Maryvonne BLONDIN, Frankreich, SOC / SOC, Arkadiusz MULARCZYK, Polen, CE / EC)

Herzlichen Dank für diese drei Fragen. Die erste Frage bezog sich auf eine möglicherweise wachsende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und damit zusammenhängend Angriffe auf Moscheen.

Ich möchte zunächst den zweiten Teil der Frage beantworten und sagen, dass überall dort, wo Angriffe auf Ausländer und auf Moscheen stattfinden, wir das mit den Möglichkeiten des deutschen Strafrechts verfolgen. Seien Sie sicher, die deutsche Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte haben ein Auge darauf. Wir haben in Deutschland kein Interesse daran, dass solche Angriffe ungesühnt bleiben, oder möglicherweise sogar noch ausweiten.

Darüber hinaus findet selbstverständlich seit dem letzten Jahr – das haben Sie alle miteinander beobachtet – so wie in vielen anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland eine Debatte über Migration statt. Diese darf aber bitte nicht mit der Debatte über strafrechtliches Tun verwechselt werden, wie das im zweiten Teil der Frage angesprochen wurde. Ich glaube, dass wir in Deutschland in Fragen der Migration gezeigt haben, dass wir zu unserem Teil der Verantwortung stehen. Sie wissen, dass wir im vergangenen Jahr fast eine Million Menschen in Deutschland aufgenommen haben. Viele von jenen werden über eine geraume Zeit auch in Deutschland bleiben und deshalb müssen wir antworten und uns engagieren, Sprach- und Schulkenntnisse zu vermitteln und wo immer möglich die Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern.

Diese Migrationsbewegung hat natürlich auch zu Diskussionen in der politischen Landschaft in Deutschland geführt, die auch Ihnen nicht verborgen geblieben sind. Auch in Deutschland wurde dies von populistischen und nationalistischen Parteien ausgenutzt und genutzt, die in Regionalwahlen damit auch einen gewissen Teil an Zustimmung gefunden haben. Ich glaube, dass wir im deutschen Parlament – das gilt für alle im Parlament vertretenen Parteien – diese nationalistischen und populistischen Angriffe auf Migranten zurückweisen und wir weiterhin unsere Verpflichtung spürend für diejenigen, die zu uns gekommen sind, auch in angemessener Weise zu sorgen haben.

Darüber hinaus bemühen wir uns gemeinsam mit den anderen europäischen Staaten innerhalb der EU zu einer stärker abgestimmten Migrationspolitik zu kommen, zu der ausdrücklich auch die Unterstützung der Herkunftsstaaten der Flüchtlinge und Migranten gehört.

Was die autoritäre Entwicklung in der Türkei angeht, so haben Sie von mir in meiner Rede schon einige Sätze dazu gehört. Ich habe sehr betont und bewusst darauf hingewiesen, dass nach einem solchen versuchten Staatsstreich, bei dem Menschen ums Leben gekommen sind und das Parlament bombardiert wurde, man nicht zur Tagesordnung übergehen kann. Das verlangt politische, rechtliche und strafrechtliche Aufarbeitung und selbstverständlich erwarten wir, dass dabei auch rechtliche Grundstandards erhalten bleiben.

Ich hoffe, dass das was Sie in ihrer Frage befürchten, nicht dauerhaft in der Türkei eintritt und dass durch die Arbeit des Europarates und seiner Institutionen mit der Türkei eine rechtsstaatliche Aufarbeitung gelingt, die so am Ende nicht zu einer autoritären Entwicklung beitragen.

Drittens: In Bezug auf die deutsche Haltung gegenüber Russland: Ich weiß nicht, ob es einen Staat oder eine Regierung in Europa gibt, die sich entschiedener als wir nach dem Angriff auf die Ukraine darum gekümmert hat, dass aus der Destabilisierung der Ostukraine kein Flächenbrand wird.

Ich glaube wir müssen berücksichtigen und lernen, dass sich am Ende Politik nicht allein in Statements bewegt, sondern dass man etwas tun muss. Wenn man etwas tut, kann man dafür kritisiert werden, das ist natürlich war. Ich finde es jedenfalls besser und verantwortungsvoller, einen solchen Konflikt um die Ostukraine zu beruhigen und nach einer Lösung zu suchen, als jeden Tag nur sich wiederholende Statements abzuliefern.

Wir sind nicht anderer Meinung als die anderen europäischen Staaten, die die Annexion der Krim ebenso verurteilt haben wie die Destabilisierung der Ostukraine und an der Russland wesentlich beteiligt war. Aber wir dürfen uns eben auch nicht mit unseren Statements zufriedengeben, sondern müssen versuchen etwas zu tun. Wir versuchen es. Ich glaube, dass es zu diesen Versuchen auf Basis der Minsker Vereinbarungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach wie vor keine Alternative gibt. Deshalb sehe ich auch keinen Grund für die Frage, die Sie im Anschluss gestellt haben, nämlich ob die Position Deutschlands in irgendeiner Weise unseren Ruf oder unsere Verantwortung unterminiert. Ich spüre viel Zustimmung für das, was wir tun, um den Konflikt in der Ukraine nicht eskalieren zu lassen und weiterhin nach Lösungen zu suchen. Ich wünschte mir, dass viele uns darin unterstützen.

In Bezug auf die letzte Frage hinsichtlich der Nord-Stream-Pipeline: Sie wissen wie ich, dass dieses ein Unternehmen ist, das von sechs privatwirtschaftlich tätigen Unternehmen aus mehreren Ländern Europas angestoßen wurde und welches nach allen rechtlichen Regularien der Europäischen Union untersucht und geprüft wird. Deshalb finde ich den zwischen den Zeilen erhobenen Vorwurf gegen die deutsche Bundesregierung nicht berechtigt.

Andrej HUNKO, Deutschland, UEL/GUE
(Fragen an Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland)

Vielen Dank Herr Präsident!

Herr Außenminister. Der Europarat ist eine Organisation, die auf Konventionen basiert und ich denke, dass nach der Europäischen Menschenrechtskonvention die Europäische Sozialcharta die wichtigste Konvention ist. Gerade in einer Zeit, wo sich so viele Menschen aus sozialen Gründen aus Europa abwenden.

Meine Frage: Die revidierte Europäische Sozialcharta ist von 33 der hier anwesenden Staaten ratifiziert worden, von Deutschland noch nicht. Wird die Bundesregierung, wie angekündigt, die Ratifizierung in dieser Legislatur noch vornehmen?

Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland
(Antwort an Andrej HUNKO, Deutschland, UEL/GUE, Petri HONKONEN, Finnland, ADLE / ALDE, Duarte MARQUES, Portugal, PPE/DC / EPP/CD)

Was die Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta angeht, lieber Herr Kollege, ist in der Tat die Situation so – und meine letzten Gespräche innerhalb der Bundesregierung stützen diese Auskunft –, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht entschlossen sind, die Ratifizierung schnell zu vollziehen. Wir sind nach wie vor dabei, die Situation zu beobachten. Wegen des weitreichenden Gestaltungsspielraumes, den die revidierte Europäische Sozialcharta beschreibt, werden wir die Situation mit Blick auf die Auswirkungen auf das deutsche Recht noch anschauen und entsprechende Prüfungen unternehmen.

Zweite Frage: Wenn ich die Frage noch richtig in Erinnerung habe, dann war Brexit das Ausgangsstichwort. Es ging im Kern um die Rolle Europas insbesondere in den Beziehungen zwischen Ost und West sowie welche Rolle der Europarat in diesen Beziehungen innehaben kann. Hier gilt das, was ich vorhin zum Thema Türkei schon einmal gesagt habe. Ich glaube, dass der Europarat im Augenblick vor dem Hintergrund der wachsenden Spannungen noch wichtiger ist, als er es schon in der Vergangenheit war. Jedenfalls dann, wenn Sie meiner Überzeugung folgen, dass man in schwierigen Zeiten das Gespräch nicht vollständig abbrechen lassen soll, dass man Gesprächskanäle auch unter Parlamentariern geöffnet halten soll. Dann kommt dem Europarat nicht nur mit der Beschreibung der menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Standards in Russland eine Rolle zu, sondern ich glaube auch als dauerhafter Gesprächspartner zwischen Ost und West, wird der Europarat in diesen und in den nächsten Jahren noch wichtiger werden, als er in der Vergangenheit war.

Die dritte und letzte Frage: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch an Portugal. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen wird eine ausgezeichnete Wahl treffen. Ich kenne natürlich den Kollegen Guterres aus vielen Jahren und weiß, in welch engagierter und erfolgreicher Art und Weise er seine Verantwortung als UNHCR wahrgenommen hat. Er kennt Multilateralismus und das VN-System und ich bin mir ganz sicher, dass er ein guter Generalsekretär sein wird. Ob die Europäische Union innerhalb der Vereinten Nationen eine stärkere Rolle spielen soll hängt von zwei Dingen ab. Erstens würde ich mir – der eine oder andere weiß, dass ich hierfür eintrete – eine Reform der Vereinten Nationen wünschen. Die Vorschläge liegen seit fast 15 Jahren auf dem Tisch und sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur im äußerst geringen Maße umgesetzt worden. Zweitens muss sich die Europäische Union selbst in den Zustand versetzen, eine größere Rolle spielen zu können. Das bedeutet, dass wir nach der Entscheidung der Briten aus der Europäischen Union auszusteigen, nach der daraus im restlichen Europa entstandenen Irritation, müssen wir selbst an einer guten Zukunft in der Europäischen Union arbeiten, Antworten geben in den Bereichen, in denen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union Antworten vermisst haben. Dazu gehört auch die Frage einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik.

Wenn die Europäische Union sich selbstbewusst darstellt und ein starker Spieler innerhalb der internationalen Gesellschaft sein wird, dann wird ihr automatisch auch wieder eine stärkere Rolle zuwachsen.

Vielen Dank.